Christine Koop, Ressortleiterin Frühe Förderung und Beratung der Karg-Stiftung, sieht mit dem Deutschen Kita-Preis und seinem Eintreten für Qualität in der frühen Bildung auch eine gute Chance für ein begabungsgerechteres Bildungssystem. Im Interview beantwortet sie Grundfragen des Zusammenhangs von Kita-Qualität und Begabtenförderung – Fragen, mit denen sich die Karg-Stiftung seit langem beschäftigt und die sich über den Deutschen Kita Preis hinaus in der Kita-Arbeit der Stiftung immer wieder stellen.
Zum Background: Starkes Signal: Deutscher Kita-Preis vergeben
Die Karg-Stiftung befasst sich seit vielen Jahren mit der Frage, wie Kitas dazu beitragen können, dass alle Kinder, auch hochbegabte, ihre Begabungen entwickeln und ihre besonderen Talente entfalten können. Als Partnerin des Deutschen Kita-Preises möchte die Karg-Stiftung das hinter dem Preis stehende Anliegen sichtbar unterstützen: Qualitätsentwicklung in der frühen Bildung ist ein Prozess, in den kontinuierlich und mit Blick auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes investiert werden muss. Und Qualitätsentwicklung und Begabtenförderung sind zwei Seiten einer Medaille. Hier wie dort stehen das Kind und seine Potenziale im Mittelpunkt.
Die Wahrnehmung kindlicher Begabungen ist sowohl auf Seiten der pädagogischen Fachkräfte als auch der Eltern stark von sozioökonomischen und kulturellen Variablen, ja sogar vom Geschlecht des Kindes beeinflusst. So wird bei Jungen bei gleichen Fähigkeiten häufiger eine besondere Begabung vermutet als bei Mädchen. Und die soziale wie kulturelle Herkunft wiederum hat großen Einfluss darauf, welche zukünftige Fähigkeitsentwicklung einem Kind zugetraut wird. Es ist wichtig, schon in den Kitas für diese Zusammenhänge zu sensibilisieren und darauf zu reagieren, damit Kinder eine Chance bekommen, ihre Stärken und Potenziale zu entdecken und zu entfalten.
Die frühe Bildung ist weniger selektiv und an Leistungsnormen orientiert als das Schulsystem. Darin liegt eine große Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit. In Kitas kann der Fokus stärker auf das Anregen, das Ermöglichen, das Identifizieren und die Entwicklung von individuellen Begabungen in ganz unterschiedlichen Fähigkeitsbereichen gerichtet werden. Die Etikettierung von Kindern als begabt oder nicht begabt, besonders leistungsfähig oder leistungsbeeinträchtigt kann in den Hintergrund rücken. Ein kind- und ressourcenorientierter Blick ermöglicht den Fachkräften, für jedes Kind individuell Stärken und Potenziale zu identifizieren und ihre pädagogischen Interventionen darauf auszurichten. Auf diese Weise können Herkunftseffekte abgeschwächt und fehlende Vorerfahrungen kompensiert werden. Es werden Lernerfahrungen ermöglicht, die wichtige Weichen für die weitere Bildungsbiografie stellen.
Die Konsequenz, mit der sich das Familienzentrum genau diesen Fragen stellt: die Fachkräfte arbeiten täglich daran herauszufinden, welche Begabungen in „ihren“ Kindern stecken und was sie ihnen zu deren Entfaltung anbieten können. Die Erzieherinnen und Erzieher sind hier in stetem Dialog mit den Kindern und ihren Familien über deren individuelle Bedürfnisse und Potenziale und machen diese zum Ausgangs- und Mittelpunkt ihrer Arbeit. Sie reflektieren permanent, wie sie den Kindern weitest mögliche Selbstbestimmung in ihren Lernprozessen ermöglichen können und sind bereit, von und mit den Kindern sowie deren Eltern zu lernen. Im Ergebnis können sich die Kinder mit ihren Interessen und Talenten ausprobieren und Vertrauen in sich und ihre Stärken entwickeln.
Mich hat beeindruckt, wie vielfältig die Wege sind, mit denen die Kitas eine individuelle Entwicklung jedes Kindes unterstützen. Noch vor wenigen Jahren haben wir im Feld diskutiert, ob offene, teiloffene oder geschlossene Gruppen die richtige Betreuungsform für die Kinder darstellen, ob Montessori, situativer Ansatz oder Reggio das bessere Konzept bieten. Bei der Sichtung der Unterlagen ist mir nochmals klar geworden, dass das Nebenschauplätze sind.
Es geht um die fortlaufende Reflexion von Fragen der professionellen Beziehungsgestaltung zu dem einzelnen Kind, die konsequente Umsetzung einer dialogischen Grundhaltung, um echtes Interesse an den individuellen Stärken, Potenzialen und Ressourcen jedes Kindes sowie an seinen jeweils aktuellen Motivationslagen sowie deren Einbindung in das alltägliche pädagogische Handeln. Die Finalisten haben mir gezeigt: Wenn diese Aspekte im Mittelpunkt des Bestrebens der Fachkräfte liegen, können Kinder – unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft – über sich hinauswachsen und Erwachsene sehen, was in ihnen steckt. Das Familienzentrum Ludwig-Uhland-Straße und die anderen Preisträger zeigen dies beispielhaft.
Eine beständige Qualitätsentwicklung dient der Beantwortung spezifischer pädagogischer Herausforderungen in einem spezifischen Kontext, der sich wiederum fortlaufend verändert. Gelten in diesem Prozess die Suche und Förderung von Begabungen, von Stärken und von Fähigkeiten als unumstößliche Prämissen, verändert das den Kita-Alltag und die Zusammenarbeit in der Kita. Das gilt für die Kinder wie für die pädagogischen Fachkräfte und nützt damit allen.
Ich sehe darin eine Bestätigung dafür, dass wir auch weiterhin Fragen professioneller Haltung und Interaktionsgestaltung in der Aus- und Weiterbildung von frühpädagogischen Fachkräften fokussieren sollten. Wir werden von Erzieherinnen und Erziehern oft gefragt, wie sie Kinder mit besonderen Begabungen in ihren Einrichtungen fördern können und der Wunsch nach fertigen Rezepten ist groß. Doch einmal mehr fühlen wir uns darin bestätigt, dass eine gute, begabungsförderliche Qualität in Kitas eine Haltungsfrage ist.