Rund ein Viertel der Kinder in niedersächsischen KiTas werden als herausfordernd wahrgenommenen – das ist eines der alarmierenden Ergebnisse einer großen nifbe-Befragung unter KiTa-Leiter*innen. Zum Auftakt der kostenlosen Online-Veranstaltungsreihe „Der geht mir dann über Tische und Bänke“ wurden die zentralen Ergebnisse der Befragung von nifbe-Transfermanager Jörg Hartwig vorgestellt und gerahmt.
Zur Begrüßung freute sich nifbe-Geschäftsführer Marcus Luttmer über das „riesige Interesse“ und über 700 Anmeldungen zu dem Vortrag aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich sowie aus allen Ebenen des KiTa-Feldes. Mit der Veranstaltungsreihe wolle das nifbe der Praxis eine niedrigschwellige Unterstützung für das brennende Thema der als herausfordernd wahrgenommenen Kinder in den KiTas bieten.
Daran anschließend betonte nifbe-Moderator Peter Keßel, dass die Vorträge „natürlich keine fertigen Lösungen für die Praxis geben können, dafür aber erste Impulse und Denkanstöße“. Er stellte im Hinblick auf das sensible Thema klar: „Es geht bei der Vorstellung der Befragungsergebnisse nicht um Etikettierungen und Zuschreibungen oder Diagnostik, sondern um die subjektiven Wahrnehmungen der KiTa-Leiter*innen zur Situation in ihren KiTas.“
In der Folge gab Jörg Hartwig detaillierte Einblicke in die zentralen Ergebnisse der online durchgeführten nifbe-Befragung, an der im September vergangenen Jahres 1.479 niedersächsische KiTa-Leiter*innen teilgenommen hatten. Der Fragebogen bestand dabei aus 10 geschlossenen sowie vier offenen Fragen. Ziel der Befragung, so Jörg Hartwig, „war es die Wahrnehmung von KiTa-Leiter*innen bezüglich der Belastungen durch als herausfordernd wahrgenommenes Verhalten und andere Faktoren zu eruieren und diese Wahrnehmungen sichtbar zu machen und ernst zu nehmen“. Auch wenn die Virulenz des Thema schon vorher klar gewesen sei, sei er dennoch „überrascht von den Ergebnissen der Befragung“: Denn so würden im Durchschnitt der befragten KiTa-Leiter*innen rund ein Viertel der Kinder in ihren KiTas als herausfordernd wahrnehmen „und über 60 Prozent sagen, dass dieses Phänomen in den letzten Jahren stark zugenommen hat.“ Ebenfalls über 60 Prozent sehen ihre KiTas dadurch stark bis sehr stark belastet.
Wie Jörg Hartwig erläuterte, sei dies ein flächendeckendes Phänomen und es gebe über die Regionen Niedersachsen hinweg kaum Unterschiede. Ein durchaus signifikanter Unterschied bestehe aber bei der Größe der KiTas: „In kleineren KiTas wird die Belastung als geringer erlebt.“
Wenig überraschend stellte sich als zweiter zentraler Belastungsfaktor in der Befragung der Personalmangel dar: Hierdurch sahen auch wiederum über 60 Prozent der befragten Leiter*innen ihre KiTas stark bis sehr stark belastet. Allerdings, so Jörg Hartwig, sei zwischen der Belastung durch herausfordernd wahrgenommenem Verhalten und Personalmangel „keine signifikante Korrelation zu erkennen.“ Weitere Belastungsfaktoren stellten die „Verhältnisse im Sozialraum“, die „Zusammenarbeit mit Eltern“, die „Räumlichen Gegebenheiten“ oder auch die fehlende Unterstützung durch Fachberatung dar.
In der Zusammenschau der Ergebnisse resümierte Jörg Hartwig, dass die KiTas hoch belastet seien und zitierte entsprechende alarmierende Aussagen von KiTa-Leiter*innen aus der Befragung:
Im Anschluss ging Jörg Hartwig näher auf die Antworten der KiTa-Leiter*innen in den offenen Fragefeldern ein. Hier habe es von 1.385 KiTa-Leiter*innen mehr als 3.500 und zum Teil sehr ausführliche Aussagen gegeben, die auch noch nicht vollständig ausgewertet werden konnten. Aber es ergebe sich mit den bisherigen Auswertungen schon ein deutliches Bild. Vielzählige Anregungen und Wünsche habe es so zur Unterstützung der KiTas in ihrer hoch belasteten Situation gegeben:
Als wichtigste derzeit wahrgenommene Unterstützung wird von über 50 Prozent der KiTa-Leiter*innen die Fachberatung genannt. „Dies,“ so Jörg Hartwig, „unterstreicht einmal mehr die Bedeutung und die Hebelwirkung der Fachberatung im System KiTa“.
In den offenen Fragen waren darüber hinaus prägnante Aussagen zur aktuellen Situation in den KiTas und ihren Ursachen zu finden, von denen Jörg Hartwig eine Auswahl präsentierte:
„Viele Kinder mit herausforderndem Verhalten müssten dieses nicht zeigen, wenn die Kita ihnen einen Rahmen bieten würde, in dem sie von den ErzieherInnen gut begleitet werden könnten“
„Kita soll ein sicherer Ort für Kinder sein, aufgrund der hohen Belastung und dem immer mehr wechselndem Personal und dem damit verbundenen Wegfall von Bindungs-Bezugspersonen, wird Kita immer unsicherer.“
„Die Arbeit ist im allgemeinen schwerer geworden, da es den Eltern in den Familien immer schwerer fällt ihre Kinder selber zu erziehen und Grenzen zu setzen. Die Eltern sind oft mit Erziehung und Beruf überfordert.“
„die Kinder kennen kein geregeltes Zusammenleben mehr. Eine richtige Förderung ist nicht möglich, da man nur Schadensbegrenzung betreibt“
„Der Erziehungsstil von vielen Eltern ist anders geworden. Viele soziale Grundlagen vermittelt dann erst der Kindergarten.“
Nach einer angeregten ersten Diskussion rund um die Ergebnisse der nifbe-Befragung zeigte Jörg Hartwig als diplomierter Sozialwissenschaftler auch noch mögliche gesellschaftliche Ursachen für die erschreckende Zunahme des als herausfordernd wahrgenommenen Verhaltens auf. Er beschrieb einen tiefgreifenden sozialen Wandel seit den 1980er Jahren und damit auch eine stark veränderte Kindheit. Als zentrale Aspekte nannte er hier:
Wie sich auch schon den zitierten Aussagen von KiTa-Leiter*innen entnehmen ließ, verlagerten sich Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsaufgaben damit von der Familie zunehmend auf die KiTa. Verschärft, so Jörg Hartwig, werde der grundlegende gesellschaftliche Wandel in den vergangenen Jahren durch multiple Krisen von der Corona-Pandemie über den Ukraine-Krieg bis zum aktuellen Zerfall der Weltordnung und einem „umfassenden Gefühl der Unsicherheit“. Last but not least spiele aber natürlich auch die durchgehende Mediatisierung und der immer frühere und längere Medienkonsum von Kindern eine Rolle beim veränderten Verhalten von Kindern.
Neben grundlegenden Verbesserungen der Strukturqualität in den KiTas, mehr Begleitung durch Fachberatung und auch der gezielten Förderung von Familienzentren benannte Jörg Hartwig noch folgende Maßnahmen als zielführend für die Entlastung der KiTas:
In der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmer*innen wurde auf vielfache Weise deutlich, dass die Rahmenbedingungen für KiTas im Hinblick auf ihre Belastungssituation und die rasant gestiegenen Anforderungen dringend verbessert werden müssen. Klar wurde aber auch, dass Kinder immer ein Spiegel der Gesellschaft sind und das hinter ihrem Verhalten ein (nicht erfülltes) Bedürfnis steht. Eine Diskutantin brachte es so auf den Punkt: „Für mich wäre nochmal wichtig, dass herausforderndes Verhalten nicht objektiv ‚problematisch‘ ist, sondern immer in der Wechselwirkung zwischen Kind und Umfeld – insbesondere den pädagogischen Fachkräften – entsteht. Es gibt Konzepte die dafür plädieren, dass Verhalten der Kinder im Kontext ihrer Bedürfnisse, Entwicklung und Umweltbedingungen zu betrachten und nicht vorschnell zu pathologisieren. Zentral ist dabei der Perspektivwechsel: Statt zu fragen ‚Was stimmt nicht mit dem Kind?‘, wird gefragt ‚Was braucht das Kind – und was fordert mich daran heraus?‘“
Zu der Aufzeichnung des Vortrags kommen Sie hier auf unserem YouTube-Kanal
Karsten Herrmann