Was ist im Blick auf die Erfahrungen, Entwicklungen und Erkenntnisse seit der ersten Bildungsreform 1970 heute immer noch wegweisend für eine gerechte und zukunftsfähige Kita? Diese Frage stand im Fokus der zweiten Veranstaltung der Reihe der „Kita-Dialoge“ und wurde von Elke Alsago (ver.di), Henriette Heimgaertner (BeKi) und Katrin Macha (ISTA und KHSB) gemeinsam diskutiert.

Zum Auftakt erinnerten sich die drei Expertinnen für frühkindliche Bildung an ihre eigene, ganz unterschiedliche Kindergartenzeit – hier reichte das weite Spektrum von einer Dorf-Kita mit 90 Kindern in einem Raum über eine reformorientierte Elterninitiative bis zu einer KiTa mit Vorschulcharakter und nur einer Stunde Freispiel pro Tag.
Nach diesen Blitzlichtern nahm Elke Alsago die Teilnehmer*innen mit auf eine Reise in die 1970er Jahre, die einerseits noch durch den Sputnik-Schock, andererseits aber auch durch eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ geprägt war. So wurde der Deutsche Bildungsrat gegründet, der den Kindergarten als Vorstufe des Bildungswesens definierte und in den Bundesländern wurden die ersten Kita-Gesetze verabschiedet. Im Deutschen Jugendinstitut wurden die ersten Überlegungen zum Situationsansatz getätigt. Im Mittelpunkt standen die Autonomie und Kompetenzen der Kinder und die Solidarität in der Kindergemeinschaft. Gleichzeitig wurde ein Modellprogramm zur Entwicklung eines Kita-Curriculums (Curriculum Soziales Lernen) initiiert und die Erprobung und Weiterentwicklung des neuen Ansatzes auf den Weg gebracht. Der Situationsansatz bezog Überlegungen u.a. aus der Kinderladen-Bewegung, Erfahrungen aus dem Faschismus unter dem Aspekt „Nie wieder“ und der Befreiungspädagogik von Paolo Freire mit ein und übersetzte dies auf die politische Situation Anfang der 1970er Jahre und auf die Arbeit in den Kindergärten.
Wie Katrin Macha ausführte, ging es beim Situationsansatz um die „freiheitliche, selbstbestimmte Akteurschaft der Kinder“ und um „sinnstiftende Lernerfahrungen“. Statt vorgegebener Inhalte sollte an den Interessen und Erlebnissen der Kinder angesetzt und Bildung in realen Alltagssituationen stattfinden. Es ging, so die ISTA-Direktorin, unter den Vorzeichen von Demokratie und Solidarität, „darum die Welt zu gestalten und Lebensräume zu verändern“. Lernen wurde dabei als ein „Akt der Emanzipation“ aufgefasst. Viele der Grundprinzipien des Situationsansatzes, so ergänzte Elke Alsago, seien dann in das SGB VIII aufgenommen, „aber nie wirklich umgesetzt worden“ – denn in den 1990er Jahren standen plötzlich eher aus der Industrie und Produktion kommende Qualitätsmanagementverfahren sowie Effizienzansprüche im Vordergrund.
Die 2000er Jahre zeigten sich dann durch den PISA-Schock, die Bankenkrise, 9/11 und enormen Kostendruck geprägt. Wie Henriette Heimgaertner ausführte, startete hier auch die „Nationale Qualitätsinitiative im System der Tageseinrichtungen für Kinder“, in der Ansprüche und Kriterien für die frühkindliche Bildung formuliert werden sollten. „Von Anfang an“, so die BeKi-rGründerin , „gab es dabei aber einen Grunddissens zwischen den Beteiligten“: Auf der einen Seite standen die Verfechter*innen von Standardisierung und einer empirisch validierten, universell einsetzbaren und extern vorgenommenen Qualitätsüberprüfung. Auf der anderen Seite standen die Verfechter*innen von mehrperspektivischen und dialogisch ausgerichteten Verfahren, wie „Qualität im Situationsansatz“, der sich an den individuellen Bedürfnissen der Kinder orientierte und Bildung als Selbstbildung verstand.
Wie Elke Alsago im Anschluss resümierte, lassen sich die komplexen und von vielerlei Wechselwirkungen abhängigen Bildungsprozesse von Kindern nicht standardisieren – das hätte auch die letztlich gescheiterten Sprachförderprogramme wie Kon-Lab oder die Osnabrücker Materialien gezeigt. Und doch musste sie mit Blick auf die gegenwärtige Diskussion feststellen: „Ewig grüßt das Murmeltier und aktuell werden wieder die gleichen Forderungen nach Standardisierung und Überprüfbarkeit erhoben wie Anfang der 2000er.“ In einer Zeit, die von ähnlicher Unsicherheit geprägt sei wie damals, werde der Ruf nach einfachen Rezepten immer lauter und das Vertrauen in die Kinder und ihre Selbstbildungspotenziale gehe verloren. Damit würde das ganzheitliche und vom Kind ausgehende Bildungsverständnis der KiTa infrage gestellt.
Unisono unterstrichen die drei Expertinnen, dass mit dem Bildungsverständnis und dem Bild vom Kind auch die Frage verbunden sei, wie wir als Menschen und als Gesellschaft zukünftig leben wollen. Im Hinblick auf Demokratie und Vielfalt müsse es in der frühkindlichen Bildung um Mitsprache und dialogische Aushandlungsprozesse und nicht um vorgegebene Inhalte und Kompetenzen gehen. Mehr denn je sei, wie Henriette Heimgaertner unterstrich, zukünftig ein Denken „out of the box“ gefragt.
In diesem Sinne plädierte Elke Alsago auch dafür, selbstbewusst das eigene Bildungsverständnis der KiTa zu vertreten und sich der eigenen Stärken und Ressourcen auch im Vergleich zur Schule zu vergewissern. Eine gute und in sozialpädagogischer Tradition ausgerichtete frühkindliche Bildung sei aber nur unter guten Rahmenbedingungen zu haben und daher „kommen die pädagogischen Fachkräfte auch nicht darum herum, sich politisch zu engagieren, um die Lebenswelten der Kinder zu verbessern.“
Die „Kita-Dialoge“ werden in Kooperation u.a. vom Paritätischen Gesamtverband, ver.di, BAG-BEK und nifbe durchgeführt.
Karsten Herrmann