Wie gerecht ist die frühkindliche Bildung in Deutschland? Erziehungswissenschaftlerin Stefanie Bischoff-Pabst erklärt im Interview mit Franziska Schubert von „Meine Kita“, warum Kitas trotz guter Absichten oft Bildungsungleichheit verstärken, und wieso gleiche Regeln für alle nicht automatisch fair sind.
Meine Kita: Wie bewerten Sie den aktuellen Stand der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland?
Stefanie Bischoff-Pabst: Ich spreche lieber von Bildungsungleichheit. Der Begriff Bildungsgerechtigkeit ist normativ und erlaubt Interpretationen, wenn er nicht klar definiert ist. Was als gerecht gilt, ist immer eine ethische Frage. Bildungsungleichheit meint den gleichen oder eben ungleichen Zugang verschiedener sozialer Gruppen zu Bildung. Haben alle Kinder die gleichen Möglichkeiten, im Bildungssystem erfolgreich zu sein? Diese Frage lässt sich empirisch durch Forschung beantworten: Der Zugang zu Bildung hängt in Deutschland nach wie vor sehr stark von sozialer Herkunft und Zuwanderungsgeschichte ab. Das zeigen alle großen Schulleistungsstudien: Pisa, TIMSS, IQB Bildungstrend. Seit der ersten Pisa-Erhebung im Jahr 2000 hat sich daran kaum etwas verändert.
Stefanie Bischoff-Pabst ist Erziehungswissenschaftlerin am Arbeitsbereich Kindheitsforschung/ Erziehung in der Kindheit an der Bergischen Universität Wuppertal.
Gilt das auch im frühkindlichen Bereich?
Die frühe Bildung wurde von Politik und Öffentlichkeit erst ab den 2000er Jahren als relevanter Bildungsraum entdeckt, ausgelöst durch den Pisa-Schock. Seitdem wurden Kita-Angebote stark ausgebaut, Bildungspläne wurden verankert und die Fachkräftezahl ist stark angestiegen. Die Hoffnung war und ist, dass eine vorschulische frühzeitige Förderung Bildungsungleichheit im Schulsystem kompensieren kann. Doch auch hier zeigt sich: Der Zugang zur Kita ist sozial selektiv, insbesondere bei Kindern unter drei Jahren und bei hoher Nachfrage nach knappen Kita-Plätzen. Kinder aus armutsgefährdeten oder Familien mit nicht-deutscher Familiensprache haben geringere Chancen auf frühe und lange Betreuung – und das trotz des seit 2013 gültigen Rechtsanspruchs.
Welche Rolle spielen Kitas konkret bei der Förderung von Chancengleichheit?
Studien belegen, dass ein früher Kita-Besuch und eine qualitativ hochwertige Betreuung die Entwicklung eines Kindes fördern. Aber: Alle Kinder profitieren davon, also auch die Kinder aus sozial privilegierten Familien. Ob dadurch Ungleichheiten reduziert werden, ist bislang unklar. Entscheidend ist auch die Qualität des Betreuungsangebots und die ist in Deutschland sehr unterschiedlich. Darüber hinaus haben viele Einrichtungen mit strukturellen Problemen wie Personalmangel zu kämpfen. Diese wirken sich zum Beispiel direkt darauf aus, was Fachkräfte in der Zusammenarbeit mit Familien leisten können. Für eine ungleichheitssensible Zusammenarbeit braucht es in erster Linie entsprechende Ressourcen. Das gilt besonders für Kitas in sozial benachteiligten Stadtteilen. Hier werden häufig besondere Anforderungen an die Fachkräfte gestellt. Trotzdem wird leider oft erwartet, dass die Kitas gesellschaftliche Probleme lösen.
Ist das realistisch?
Nein, das ist überfrachtet. Die Kita soll Integration leisten, Armutsfolgen ausgleichen, Schulerfolg sichern, und das mit chronisch zu wenig Personal, Zeit oder entsprechenden Konzepten. Solchen Verheißungen können Kitas kaum gerecht werden. Pädagogische Maßnahmen können Ungleichheit abfedern, aber nicht beseitigen. Dafür braucht es gesellschaftliche und politische Veränderungen.
Könnte es auch helfen, das Thema Bildungsungleichheit noch mehr in die Ausbildung von Fachkräften zu integrieren?
Definitiv, das wäre ein erster kleiner Schritt. Die Themen Armut und Ungleichheit sind in den Curricula der Fachschulen kaum verankert. Viele Fachkräfte starten ohne Wissen über strukturelle Diskriminierung oder gesellschaftliche Machtverhältnisse in den Beruf. Eine bessere Vorbereitung auf diese Themen schon in der Ausbildung wäre essenziell, um die Reflexionsfähigkeit und Ungleichheitssensibilität der Fachkräfte zu stärken.
Und welche politischen Veränderungen sind notwendig, um die Bildungsgleichheit schon im frühkindlichen Bereich zu stärken?
Vor allem eine verlässliche Grundfinanzierung und strukturelle Unterstützung. Bundesprogramme zur Förderung von Chancengleichheit in der Kindertagesbetreuung wie zum Beispiel „Sprach-Kitas“ sind natürlich grundsätzlich zu begrüßen. Sie sind allerdings häufig zeitlich begrenzt und es braucht auch dauerhafte Lösungen: mehr Personal und Zeit, um zum Beispiel passgenaue Konzepte vor Ort auszuarbeiten und nachhaltig umzusetzen. So könnte eine differenz- und ungleichheitssensible Praxis gestärkt werden. Ebenso sollten leicht zugängliche Dolmetscherdienste eine Selbstverständlichkeit sein. Kitas leisten bereits viel, aber ohne politische Rückendeckung stoßen sie an ihre Grenzen. Pädagogik allein kann Armut nicht beseitigen.
Sie haben aber auch darauf hingewiesen, dass Kitas selbst selektieren und damit zur Ungleichheit beitragen.
Ja, vor allem beim Zugang bei Platzknappheit: Wer keine Kontakte, kein familiales Netzwerk oder keine Infos über Anmeldefristen hat, meldet sein Kind später an und landet weiter unten auf den Wartelisten. Das vielerorts wichtige Kriterium „Berufstätigkeit der Eltern“ unterstützt bei der Platzvergabe gezielt Mehrverdienerhaushalte und wirkt sich benachteiligend bei Arbeitslosigkeit aus. Der Prozess der Platzvergabe ist für Eltern oft nicht gut durchschaubar, auch nicht in zunehmend zentralisierten Anmeldeverfahren. Einrichtungsleitungen nutzen aktiv Entscheidungsspielräume. So werden zum Beispiel Eltern, die persönlich erscheinen, oft bevorzugt aufgenommen. Wenn Einrichtungen dann bei der Platzvergabe solche Familien bevorzugen, „die gut reinpassen“ und sich interessiert zeigen, kann das diskriminierend wirken, auch ungewollt. Wer sagt „für alle gelten dieselben Regeln“, ignoriert die ungleichen Ausgangsbedingungen für Eltern.
Was können Einrichtungen dagegen tun?
Viele Kitas sind monolingual deutsch aufgestellt, ohne institutionalisierte Dolmetscherstrukturen. Eltern mit wenig oder keinen Deutschkenntnissen stoßen da sowohl beim Zugang zur Einrichtung als auch in der Zusammenarbeit an Grenzen. Aushänge, Elterninformationen, Anmeldeprozesse: Alles läuft in deutscher Sprache. Fachkräfte und Familien werden dadurch gezwungen, individuelle Lösungen zu finden, etwa mit selbst erstellten Bildkarten oder mit anderen Eltern als Dolmetschern. Das ist kreativ und engagiert, aber eben nicht institutionell abgesichert. Zudem braucht es Teams, die sich kritisch mit ihren Routinen, Vorurteilen und Erwartungen auseinandersetzen.
Wie meinen Sie das?
Oft wirken unsere unbewussten Vorstellungen, etwa über gute Elternschaft oder soziale Benachteiligung, handlungsleitend und können zu Stigmatisierung oder Ausgrenzung führen, auch wenn wir das nicht beabsichtigen. Daher ist es wichtig, dass Fachkräfte ihre eigenen Einstellungen regelmäßig reflektieren und im Team darüber sprechen, um faire und wertschätzende Beziehungen zu fördern sowie Zugang und Teilhabe vor Ort ungleichheitssensibel zu gestalten. So können zum Beispiel die eigenen Routinen in der Platzvergabe gemeinsam reflektiert werden, um ohnehin benachteiligte Familien nicht weiter zu benachteiligen.
Kann der Einsatz von digitalen Medien dabei helfen, Ungleichheiten in Kitas abzubauen?
Dazu gibt es noch wenig Forschung. Aber Kita-Apps boomen. Sie versprechen zum Beispiel eine vereinfachte und effizientere Kommunikation, auch mehrsprachig. Das kann mit Sicherheit Barrieren abbauen, etwa für die Kommunikation mit Eltern mit nicht-deutscher Familiensprache. Gleichzeitig ist unklar, ob nicht wieder vor allem ressourcenstarke Eltern davon profitieren, die ohnehin bereits digital fit sind. Wir starten dazu gerade ein Forschungsprojekt, das uns nähere Erkenntnisse liefern wird.
Quelle: wwww.bildungsklick.de / Dieser Artikel ist zuerst im
Magazin Meine Kita Ausgabe 3/2025, S. 8-11 erschienen.