Um wirkungsvoll zu schützen, müssen Kinderschutzkonzepte in der Praxis gelebt werden
Laut Statistischem Bundesamt haben die Zahlen an Kindeswohlgefährdungsmeldungen und bestätigten Fällen von Kindeswohlgefährdungen im Jahr 2023 einen neuen Höchststand erreicht. Mit Berücksichtigung der geschätzten Dunkelziffer gab es im Jahr 2023 über 67.000 Kindeswohlgefährdungsfälle in Deutschland.
Die bekanntgewordenen Gefährdungen fanden zumeist im häuslichen Umfeld statt, verursacht durch die Eltern. Etwa ein Drittel der betroffenen Kinder war dabei unter 5 Jahre alt. Aber auch im Rahmen institutioneller Betreuung stiegen in den vergangenen Jahren die Zahlen von Grenzverletzungen und Übergriffen an, was unter anderem die Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes im Jahr 2021 und die damit verbundene Pflicht pädagogischer Einrichtungen zur Erstellung institutioneller Schutzkonzepte bedingte.
Die beschriebenen Zahlen verdeutlichen die Doppelrolle von Kindertageseinrichtungen im Kontext Kinderschutz: Die Fachkräfte sind Vertrauenspersonen der Kinder, die oft einen Großteil ihres Tages in den Einrichtungen verbringen. Sie sind daher häufig die ersten Personen, die von Gefährdungsmomenten und Überforderungssituationen im häuslichen Umfeld erfahren oder Hinweise auf ebendiese, beispielsweise durch Verhaltensveränderungen, Interaktionsbeobachtungen oder Verletzungen beobachten. Diesen Anhaltspunkten haben Fachkräfte im Rahmen ihres Schutzauftrages (§ 8a SGBVIII) nachzugehen, denn Kinder haben diverse Beteiligungs-, Förder- und Schutzrechte, die es zu wahren gilt und deren Verletzung gleichzeitig auch die Grenze der elterlichen Rechte darstellt.
Gleichzeitig ist die Kindertageseinrichtung ein Schutzraum der Kinder, in welchem sie die Möglichkeit haben sich, in einem sicheren Rahmen, zu entfalten und zu entwickeln. Hier werden die Partizipations- und Förderungs-, sowie Schutzrechte der Kinder auch in der pädagogischen Arbeit berücksichtigt. Fachkräfte sind somit auch Vorbild und sollten auch untereinander ein gewaltfreies Miteinander, unter Wahrung aller Rechte, leben. Trotzdem erleben Kinder in der Praxis immer wieder Grenzverletzungen und übergriffiges Verhalten auch in pädagogischen Einrichtungen, durch pädagogische Fachkräfte, die es doch eigentlich besser wissen sollten?!
»Das Handeln von pädagogischen Fachpersonen in Bezug auf die grenzachtende und gewaltfreie Begleitung von Kindern wird vor allem dann positiv beeinflusst, wenn Kinderschutz als Querschnittsthema angesehen wird und es ein definierter, Allen bekannter Teil des (Träger-)Leitbildes sowie der pädagogischen Konzeption der Kita ist.« (Epping, Menzel und Moseler 2025, S. 91)
Die Entwicklung von Schutzkonzepten dient somit zum einen der Sensibilisierung der Fachkräfte und Familien für Kinderschutzthemen, zum anderen bieten Schutzkonzepte auch konkrete Schutzmöglichkeiten, wenn deren Inhalte gelebt werden. Sie geben den Fachkräften dann Handlungssicherheit und Orientierung im konkreten Kinderschutzfall, aber auch der alltäglichen Arbeit – mit den Kinderrechten im Fokus, wenn sie in die alltäglichen Strukturen und Abläufe integriert und somit für die Kinder erlebbar werden.
Kinderschutzkonzepte sollen die pädagogischen Fachkräfte und auch die Familien für das Thema Kinderschutz sensibilisieren, indem wichtige Begriffe und Rechte thematisiert sowie Gewalt enttabuisiert wird. Grundlage für die Erarbeitung von Maßnahmen zur Sicherstellung der kindlichen Rechte sowie des Schutzauftrages der Fachkräfte im pädagogischen Alltag bietet eine sogenannte Risikoanalyse.
In dieser werden die Strukturen, Räumlichkeiten und alle anderen Faktoren des pädagogischen Alltags und der Einrichtung dahingehend analysiert, welche Faktoren Risiken für das Auftreten von Gefährdungsmomenten bieten und welche Schutzfaktoren es gibt. Diese werden im Schutzkonzept reflektiert und transparent gemacht sowie erarbeitet, wie mit den Risiken umgegangen werden soll. Ein Fokus sollte hier auf Situationen besonderer Nähe und andere Schlüsselsituationen gelegt werden, wie beispielsweise das Wickeln und Schlafen, Essenssituationen sowie die Eingewöhnung und Bringzeiten.
Außerdem werden alle Maßnahmen beschrieben, die im pädagogischen Alltag nötig sind, um Kinder vor Gewalt aller Art zu schützen. Das umfasst sowohl alle präventiven Maßnahmen im pädagogischen Alltag, wie beispielsweise Präventionsprojekte, Sexualpädagogische Konzepte, Fortbildungen oder präventive Haltung, als auch konkrete Handlungsleitfäden zum Umgang mit Verdachts- und Gefährdungsfällen (Intervention) und einen Verhaltenskodex für die Fachkräfte in der Praxis. Dazu braucht es auch die Klärung von Verantwortungen. Es wird auch die Zusammenarbeit mit den Familien im Rahmen des Kinderschutzes, durch eine Erziehungs- und Bildungspartnerschaft beschrieben.
Reflexionsfragen I
Die Grundlage für eine wirkungsvolle Umsetzung des Schutzkonzeptes bildet entsprechend die gelebte Haltung, die im Leitbild der Einrichtung beschrieben wird. »Es ist erforderlich, in Kitas und Teams ein Leitbild zu entwickeln, das einen pädagogischen Rahmen dafür setzt, wie der Anspruch auf grenzachtende und gewaltfreie Pädagogik eingelöst werden kann. […] Ein solches Leitbild sollte konsensorientiert und partizipativ mit den Mitarbeiter*innen entwickelt werden, um Akzeptanz zu schaffen und eine Umsetzung in den pädagogischen Alltag zu ermöglichen.« (Epping, Menzel und Moseler 2025, S. 133) Im Rahmen der Erstellung des Leitbildes sollten verschiedene Aspekte gemeinsam beleuchtet werden, die im Folgenden beschrieben werden.
»Erwachsene sollten sich ihrer Macht und den daraus folgenden Handlungsweisen bewusstwerden.« (Epping, Menzel und Moseler 2025, S. 79) In der Kita besteht dieses Machtgefälle, ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kind und Fachkräften sowie zwischen Eltern und Einrichtung ganz automatisch. Es braucht entsprechend ein Bewusstsein über die eigene Machtposition sowie einen verantwortungsbewussten Umgang mit dieser. Es bedarf Augenhöhe in der gemeinsamen Kommunikation mit Kindern und Eltern sowie eine Verpflichtung zur allgemeinen Gewaltfreiheit. Gewalt ist dabei mehr als nur körperliche Aggression, sondern umfasst auch subtile Formen der psychischen und seelischen Gewalt sowie Adultismus und andere Formen der Diskriminierung. Es braucht entsprechend eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen sowie dem individuellen Erleben von Gewalt, um den umfänglichen Schutz von Kindern vor Gewalt sicherzustellen – es braucht Gewaltbewusstsein und Gewaltkritik im pädagogischen Alltag.
Kinder sind Subjekte mit individuellen Bedürfnissen sowie Förderungs-, Beteiligungs- und Schutzrechten und sollten als diese gesehen und anerkannt werden. »Damit […] grenzachtend und gewaltfrei pädagogisch gehandelt werden kann, bedarf es [entsprechend] eines fachlich fundierten Wissens sowohl über die (Grund-)Bedürfnisse von Kindern als auch über die rechtlich verbindlichen Grundlagen.« (Ebd., S. 44) Nur dann können die kindlichen Rechte auch in der pädagogischen Arbeit berücksichtigt und so für die Kinder erlebbar gemacht werden. Die Verantwortung für die Sicherstellung der Kinderrechte tragen dabei immer die Erwachsenen.
Zur Umsetzung hilft eine etablierte Kultur des Hinsehens und Hinhörens sowie des angstfreien Sich-Einmischen-Dürfens. Kinder brauchen Unterstützung bei der Benennung und Durchsetzung eigener Grenzen.
Damit die beschriebene Haltung und alle daraus resultierenden Maßnahmen in der Praxis umgesetzt werden können, braucht es eine qualifizierte und für Kinderschutz sensibilisierte Einrichtungsleitung, die Halt gibt, die Haltung vertritt und das Team, welches den Kinderschutz und die Haltung lebt, trägt. Damit das Team Kinderschutz leben kann, braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, die durch Einrichtungsleitung und Träger zur Verfügung gestellt werden müssen. Dazu zählen, neben zeitlichen, räumlichen und finanziellen Ressourcen für Fort- und Weiterbildungen sowie Fallberatungen und Selbstfürsorge, auch fest verankerte Zuständigkeiten und Verantwortungen, Netzwerk- und Austauschstrukturen sowie eine präventive Personalgewinnung und Management. Entsprechend braucht es individuelle Möglichkeiten zur Sensibilisierung und Strukturen, die durch gezielte Personalauswahl und wirkungsvolle Einarbeitungs- und Unterstützungsmöglichkeiten auch präventiv schützen.
Reflexionsfragen II
Reflexionsfragen III
Damit Schutzkonzepte langfristig wirkungsvoll sind braucht es zum einen die gemeinsame Erarbeitung des Schutzkonzeptes – zusammen mit dem Team, den Kindern und auch den Eltern, um alle Perspektiven und Sorgen berücksichtigen zu können sowie ganzheitlich zu sensibilisieren. Es gibt diesbezüglich verschiedene Themen zu beleuchten und auf den pädagogischen Alltag zu übertragen: Kinderrechte und kindliche Bedürfnisse, Grundlagenwissen zum Kinderschutz und rechtlichen Vorgaben sowie Gewalt und Macht, aber auch Partizipation. Zum anderen braucht es in der Umsetzung die stetige Reflexion und Weiterentwicklung, um Veränderungen berücksichtigen zu können und stets das Kindeswohl im Blick zu haben. Ein wirkungsvolles Kinderschutzkonzept zu leben ist entsprechend ein stetiger Prozess.
Literatur
Epping, Menzel, Moseler (2025): Gewaltfreies pädagogisches Handeln in der Kita. Kinderschutz im Team wirksam umsetzen. Stuttgart: Kohlhammer.
Maywald, J.: Kinderschutz: Schritt für Schritt zum Kita-Schutzkonzept. Basiswissen, Fallbeispiele, Reflexionsfragen und Checklisten. Arbeitsmaterial mit 35 illustrierten Bildkarten für Kita-Teams. Don Bosco.
Übernahme des Beitrags mit freundlicher Genehmigung aus Kita aktuell ND 5-2015, S. 11-13

Annalena Röber ist in der präventiven Kinderschutzarbeit des Jugendamtes Mönchengladbach und nebenberuflich in der Lehre und im Fortbildungsteam des Kompetenzzentrums Kinderschutz an der Fliedner Fachhochschule tätig