Pädagogische Beziehungen bilden ein Fundament dafür, dass Leben, Lernen und demokratische Sozialisation gelingen. Nachdem körperliche und sexualisierte Gewalt geächtet wurde, sind seelische Verletzungen die häufigste und zugleich die am meisten ignorierte Gewaltform im Bildungswesen. Empirisch belegt ist, dass in allen Bildungsstufen ethisch begründetes, die Würde der Kinder und Jugendlichen in ausreichendem Maße achtendes und ethisch unzulässiges, missachtendes pädagogisches Handeln vorzufinden ist. Der folgende Beitrag berichtet über das Vorhaben der „Rekahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“, das zur kinderrechtlichen Verbesserung der Beziehungsqualität in Einrichtungen und Schulen vom Kindergarten an beitragen will.
Leider mussen wir feststellen, dass die philosophische Disziplin der angewandten Ethik einen erstaunlichen blinden Fleck aufweist (Kramer 2014). Standardwerke über angewandte Ethik, wie die von Nida-Rümelin (1996, 2. Aufl. 2005), von Dagmar Fenner (2010), von Nikolaus Knoepffler (2009) oder auch einschlägige Webseiten, enthalten meist über zehn verschiedene Bereichsethiken, unter anderem Medizinethik, Wirtschaftsethik, Medienethik oder Tierethik. Vergeblich sucht man hier – von seltenen Ausnahmen abgesehen (Pieper 2017) – nach Pädagogikethik, wenn man dabei von den spezifisch fachdidaktischen Publikationen zu den unter verschiedenen Namen existierenden „Schulfächern Ethik“ (Kenngott 2011) absieht.
Angesichts der Pluralität globaler Lebensformen, sozialer Bewegungen, Forschungsrichtungen und pädagogischer Konzeptionen ist es erforderlich, verbindliche Prinzipien einer professionellen pädagogischen Ethik zu entwickeln. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist – inspiriert durch postmoderne, kritische und menschenrechtliche Theorien – eine neue Form des Wertschätzens von Pluralität entstanden. Die Diskriminierung differenter Lebensformen wurde bewusst. Plurale soziale Bewegungen erhoben ihre Stimmen. Plurale Forschungsrichtungen untersuchten Benachteiligung und plurale pädagogische Konzeptionen wurden praktisch und theoretisch wirksam. Angesichts solcher Anerkennung von Pluralität stellt sich die Frage, welche gemeinsamen Orientierungen als verbindlich begründet werden können.
Die Antwort auf diese Frage bieten die Menschenrechte und ihre gruppenbezogenen Deklarationen, wie zum Beispiel die Kinderrechtskonvention und die Behindertenrechtskonvention. Ein zentrales Kennzeichen der Menschenrechte ist ihre Gültigkeit für alle Menschen, ihre Universalität. Die universell ausnahmslos allen Menschen zukommende Menschenwurde beinhaltet das Prinzip der gleichen Freiheit und damit die Offenheit für vielfaltige Lebensformen. Diese Vorstellung verbindet Selbstachtung und Anerkennung der Anderen und wendet sich gegen jede Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Im Hinblick auf die Pädagogik geht damit sowohl eine Kritik am „Adultismus“, also der Entwertung und Unterdrückung der Kinder durch Erwachsene als auch eine Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu Selbstachtung und Anerkennung der Anderen einher (Wagner 2007). Auf menschen- und kinderrechtlicher Grundlage (Maywald 2016; Wapler 2016) kann eine Pädagogikethik begründet werden.
Das Vorhaben „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die sich einem ausgewählten Aspekt der zu entwickelnden Padagogikethik widmet: den Beziehungen zwischen Lehr- und pädagogischen Fachkräften und den Kindern und Jugendlichen, mit denen sie arbeiten. Neben anderen ethisch relevanten Aspekten, die z.B. zu institutionellen, fachlichen und didaktischen Handlungsebenen gehören, stellen sich auf der Beziehungsebene besonders bedeutsame Anforderungen an die Qualität pädagogischen Handelns. Die weitaus am häufigsten vorkommende Gewalt gegen Kinder geschieht in Form seelischer Verletzungen. Wir müssen aufgrund von umfassenden systematischen Beobachtungen von der Annahme ausgehen, dass durchschnittlich mit jeder zwanzigsten pädagogischen Interaktion eine starke eindeutig als unzulässig zu erachtende Verletzung einhergeht (Prengel 2013).
Dabei unterscheiden sich die einzelnen pädagogischen Fachkräfte und Lehrkräfte erheblich voneinander, häufig verletzende und sehr anerkennende Erwachsene arbeiten Tür an Tür sowie in den gleichen Gruppen und Klassen.
Zahlreiche Forschungsrichtungen belegen immer wieder neu, dass verletzendes pädagogisches Handeln sich auf Entwicklung und Lernen schädlich auswirkt und dass Kinder und Jugendliche anerkennende Interaktionen und Beziehungen brauchen. Dazu gehören die Bindungsforschung, die Sozialisationsforschung, die Bedürfnisforschung, die Anerkennungsforschung, die Schulleistungsforschung, die Interaktionsforschung und andere (vgl. zusammenfassend Prengel 2013; Prengel & Winklhofer 2014; Konig 2010).
In dieser Situation werden dringend eine pädagogische Kunstfehlerlehre und ein verstärktes Nachdenken über die Normen eines pädagogischen Berufsethos gebraucht. Dazu soll das Projekt „Reckahner Reflexionen zur Ethik padagogischer Beziehungen“ beitragen. Das Vorhaben wurde in einem fünfjahrigen Entwicklungsprozess durch den Arbeitskreis Menschenrechtsbildung erarbeitet. Jährliche Expertenkonferenzen im Rochow-Museum im brandenburgischen Museumsdorf Reckahn dienten und dienen weiterhin dazu, Leitlinien zur kinderrechtlichen Verbesserung pädagogischer Beziehungen zu entwickeln und sie lokal, bundesweit und international zu verbreiten, Fortbildungskonzeptionen dazu zu entwickeln sowie interdisziplinare Forschungsvorhaben anzustoßen. Die Leitlinien sollen Reflexionen anregen und als Orientierung für dauerhafte professionelle Entwicklungen auf der Beziehungsebene dienen. Sie wenden sich an Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte und Verantwortliche in allen Bereichen des Bildungswesens. Auch Versionen der Leitlinien für Kinder und Jugendliche sowie in leichter Sprache werden gegenwärtig entwickelt.
Von 2017 bis 2021 wird das Projekt von der Robert Bosch Stiftung maßgeblich gefordert. Die Reckahner Reflexionen knüpfen an humane Traditionen der aufgeklarten philanthropischen Pädagogik an, die nachweislich u.a. in der historischen Musterschule in Reckahn zwischen 1773 und 1805 praktiziert wurde (Schmitt 2007). Von diesem „Kulturellen Gedachtnisort mit nationaler Bedeutung“ (Raabe 2006) ausgehend sollen gegenwarts- und zukunftsbezogene Perspektiven im Sinne der Theorie des Kulturellen Gedächtnisses (Assmann 2006) entwickelt werden.
Gute pädagogische Beziehungen bilden ein Fundament dafür, dass Leben, Lernen und demokratische Sozialisation gelingen. Darum soll mit den hier vorliegenden ethischen Leitlinien die wechselseitige Achtung der Würde aller Mitglieder von Schulen und Einrichtungen gestärkt werden.
Die Leitlinien sollen Reflexion anregen und als Orientierung für dauerhafte professionelle Entwicklungen auf der Beziehungsebene dienen. Sie wenden sich an Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte sowie an verantwortliche Erwachsene in allen Bereichen des Bildungswesens.
Was ethisch begründet ist
Was ethisch unzulässig ist
Handlungsebenen der Stärkung pädagogischer Ethik
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Informative Stichworte zum Projekt „Reckahner Reflexionen“
Projektförderungen und Laufzeiten
Herausgeber der Reckahner Reflexionen, Projektträger und Kooperationspartner
Herausgeber:
Herausgeber und Projektträger:
Kooperationspartner u .a.:
Projektteam:
Materialien
Unterzeichnung
Institutionen und namhafte Personen befürworten die Reckahner Reflexionen. Dazu gehören u.a.:
Personen und Institutionen, die die Reckahner Reflexionen zur Ethik Pädagogischer Beziehungen befürworten, sind eingeladen, sich als Unterzeichner registrieren zu lassen (aprengel@uni-potsdam.de).
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Prof. Annedore Prengel lehrte bis 2010 an der Universität Potsdam mit dem Schwerpunkt »soziales Lernen und Integration Behinderter« und ist heute Seniorprofessorin an der Goethe Universität Frankfurt am Main.Seit vielen Jahren befasst sie sich mit der Heterogenität in der Bildung. In den letzten Jahren verstärkt auch mit einer Pädagogik der Vielfalt im Elementarbereich sowie mit der Bedeutung pädagogischer Beziehungen.Gemeinsam mit einem Autorenkollektiv erarbeitete Annedore Prengel die WIFF-Expertise 5 »Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen.« Außerdem forscht Annedore Prengel über die Qualität der Interaktionsbeziehungen zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern und setzt sich für eine auf den Kinderrechten begründete Ethik der Beziehungen ein. Dazu entwickelte sie gemeinsam mit KollegInnen Handlungsmaximen für die pädagogische Praxis. Diese nennen sich Reckahner Reflexionen und können hier heruntergeladen werden.Kontaktprengel@uni-potsdam.de