Die Familie ist das einzige soziale System, auch im Vergleich zu anderen pädagogischen Institutionen wie Kindergarten und Schule, in dem die ganze Person Bezugspunkt für Kommunikation und (Lern)-Hilfe ist. Der die gesamte Biografie nachhaltig prägende personenbezogene Charakter der Beziehungen und der Erziehung in der Familie bestimmt auch die Lernprozesse vom frühesten Alter an. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um informelle Lernprozesse in einem gemeinsam gelebten Alltag, der durch die von den Eltern vertretenen Verhaltensweisen und Werte bestimmt wird. Bindung und Bildung stehen dabei in enger Wechselbeziehung. Die Qualität der emotionalen Bindungserfahrungen der Kinder hat einen grundlegenden und nachhaltigen Einfluss auf ihr Explorationsverhalten und alle anderen Bildungsprozesse sowie auch auf ihr eigenes Bindungs- und Sozialverhalten. Wenn beispielsweise die PISA-Studie (Programme for International Student Assessment, 2000) u.a. belegt, dass den frühen Bindungserfahrungen der Kinder in ihren Familien eine grundlegende Bedeutung für den Kompetenzerwerb im Jugendalter zukommt, so dürften dafür die Tiefen- und Langzeitwirkungen ursächlich sein, wie sie im Beziehungssystem der Familie geprägt werden. Nach internationalen Forschungsergebnissen scheint die Wirksamkeit größer zu sein als die Wirksamkeit der Bildungsprozesse im Elementarbereich.
In den modernen Varianten der öko und familienentwicklungspsychologischen Theorien zum kindlichen Sozialisations- und Lernprozess wird besonders auf die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung abgehoben.
Sie ist begründet in der Feinfühligkeit der Eltern für die Lebensäußerungen des Kindes, für seine individuelle Eigenart und Anerkennung seiner Person, im Wechselspiel des Erfahrbarmachens von Verbundenheit und Autonomie. Diese Empathie sollte verknüpft sein mit klaren Verhaltensanforderungen, die sich beispielsweise auf altersgemäße Mithilfe im Haushalt und die Rücksichtnahme auf die Belange anderer Familienmitglieder und Mitmenschen beziehen. Ein Erziehungsstil, der emotionale Wärme, Ermutigung zu Autonomie und klare Verhaltensanforderungen umfasst, in der Forschung in Abgrenzung zum autoritären und zum laissez-faire-Stil als autoritativ bezeichnet, scheint am besten geeignet, die Entwicklung der Kinder zu selbstständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern.
Eine hohe Qualität von Familienerziehung verlangt darüber hinaus ein Wissen über die wichtigsten Schritte, Krisen und Transitionen in der kindlichen Entwicklung. Nur so können Eltern angesichts der Ambivalenzen der modernen Gesellschaft authentisch und glaubhaft einen positiven Sinn von Bildungsanstrengungen vermitteln.
Dieses zugleich partnerschaftlich-reflexive und für-sorgliche Erziehungsverhalten stellt Eltern vor An-forderungen, die nicht selbstverständlich zu erfüllen sind, vielmehr ein Bündel von Elternhilfs- oder -trainingsprogrammen initiiert haben, ganz zu schweigen von einer (nicht immer hilfreichen) Flut von Ratgeberliteratur. Da die Eltern aber über alle Schichten hinweg in vielleicht noch stärkerem Maße als früher zu Sachwaltern des Kultur- und Bildungserwerbs ihrer Kinder geworden sind, sollten, neben dem Familienlastenausgleich, in der Familien- und Sozialpolitik geeignete Fördermaßnahmen unbedingt institutionalisiert werden.
Literatur
Copyright-Hinweis:
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)
Zum Weiterlesen:
Beruflicher Werdegang 1959 - 1965 Studium der Fächer Philosophie, Germanistik, Geschichte und Pädagogik an den Universitäten Göttingen, FU Berlin und Wien 1965 - 1980 Wissenschaftlicher Assistent, Akademischer Rat und Hochschuldozent an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen 1980 - 1995 Professor für Allgemeine Pädagogik am Fachbereich Erziehungs- wissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen 1983 - 1986, 1992 - 1994 Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Georg- August-Universität 1995 - 2005 Universitätsprofessor für Schulpädagogik an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig (Pensionierung) 1997 - 2003 Geschäftsführender Leiter des Instituts für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik 1999 - 2001 Vizepräsident für die Ressorts „Lehre, Studium und Weiterbildung“ und „Internationale Beziehungen“ 1995 - 2009 Wissenschaftlicher Leiter der „Arbeitsstelle für Hochschuldidaktik“, seit 2000 „Kompetenzzentrum Hochschuldidaktik für Niedersachen“
2005 – 2009 kommissarisch 1977 - 1979, Lehrauftrag für Philosophie und Pädagogik an der TU Clausthal 1989 - heute Rahmen des Studium Generale
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