Im Rahmen des gesetzlich festgelegten Kinderschutzes müssen sich pädagogische Fachkräfte und Träger von Kindertageseinrichtungen immer wieder damit beschäftigen, wie und in welchen Formen Kinderschutz in der täglichen Kita-Arbeit gewährleistet werden kann.
Kinderschutz ist in verschiedenen Gesetzen verankert, der Begriff aber nicht ganz einfach zu klären. Dagegen ist Kindeswohlgefährdung begrifflich klar umschrieben und wurde in den letzten Jahren geschärft. Doch im Alltag stellen sich immer wieder folgende Fragen: Wo beginnt Kinderschutz, wo Kindeswohlgefährdung? Wie kommt es zur Kindeswohlgefährdung? Welche Formen von Gewalt können Kinder in der Kita erleben? Wie muss der Kita-Alltag gestaltet sein, dass er von Kindern als sicher und damit als Schutzort wahrgenommen werden kann? Ist es bereits eine Gefährdung des Kindeswohls, wenn das Kind am Tisch sitzen bleiben muss, weil es nicht bereit ist, das Puzzle zurück in den Schrank zu legen? Kindeswohlgefährdung kann in der Kita viele unterschiedliche Gesichter haben und es ist nicht immer eindeutig zu sagen, welches erzieherische Verhalten und Verhalten unter Kindern das Wohl eines Kindes gefährdet.
Kinder haben das Recht ohne Gewalt erzogen zu werden und sie haben gleichzeitig das Recht darauf, mit ihrer Meinung und ihrem Willen gesehen und ernst genommen zu werden. Kinderrechte sind in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen sowie in der EU-Grundrechtecharta beschrieben. Art. 24 der Charta zeigt u.a.:
»Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt.«
Damit wird klar, dass eine Gefährdung des Kindeswohls nicht erst bei einem offensichtlichen Gewaltakt, sondern bereits mit dem Verletzen dieser Kinderrechte beginnt. Für die pädagogische Arbeit in der Kita trifft das SGB VIII weitere Festlegungen. Neben dem Auftrag zur Erziehung, Förderung und Betreuung (§ 22 SGB VIII) haben Kitas die Pflicht, Kinder vor einer Gefahr ihres Wohlergehens zu schützen (§ 8a SGB VIII). Wann eine Kindeswohlgefährdung vorliegt und was unter Kinderschutz zu verstehen ist, ist spätestens seit dem 2012 eingeführten Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) grundlegend geklärt.
Grundsätzlich wird zwischen grenzüberschreitendem Verhalten und Übergriffen unterschieden. Beim grenzüberschreitenden Verhalten kommt es zu einer Missachtung der psychischen, physischen und verbalen Grenzen des anderen. Welche Handlungen als grenzüberschreitend wahrgenommen werden, hängt immer vom subjektiven Empfinden des Einzelnen ab (Reddel 2023). Übergriffe geschehen immer absichtsvoll und aktiv, sie werden nicht ungewollt herbeigeführt, wie das bei grenzüberschreitendem Verhalten der Fall sein kann. Ein Übergriff nutzt immer Macht aus und nimmt Unfreiwilligkeit des Gegenübers billigend in Kauf. Mit Übergriffen können Gewaltformen wie emotionaler oder sexueller Missbrauch einhergehen (vgl. Reddel 2023). Es gilt festzuhalten, dass Übergriffe in selteneren Fällen begangen werden. Nicht zuletzt, weil das seit 2000 geltende Gewaltverbot in der Erziehung vielen bewusst ist.
Häufig beginnt Gewalt gegen Kinder im Kita-Alltag jedoch subtil, unreflektiert und in Form von alltäglichen kleinen Übergriffen gegen den Willen des Kindes. Vielleicht kommen Ihnen diese oder ähnliche Alltagsbeispiele bekannt vor: »Iss deinen Teller auf, egal ob du noch hungrig bist.« »Ich habe dir das schon drei Mal gesagt, jetzt verlässt du den Raum.« »Ich wische dir schnell den Mund ab, du bist so langsam.« Zu fragen ist, wann Beteiligungs- und Schutzrechte von Kindern im Alltag aufgegeben werden.
Die Gründe sind meist vielfältig und es kommen mehrere Ursachen zusammen, die zu einer Überschreitung kindlicher Grenzen durch Erwachsene oder andere Kinder führen. Häufig passiert eine Grenzverletzung unbewusst und mit bester Absicht für das Kind. Die vermeintlich gute Absicht entspricht jedoch nicht immer dem Willen des Kindes. Boll und Remsperger-Kehm (2021) beschreiben, dass grenzverletzendes Verhalten oft in kleinen Impulsen beginnt, Signale oder Bedürfnisse von Kindern nicht wahrzunehmen, genauso wie ein Augenverdrehen als Reaktion zur Bemerkung eines Kindes. Es kann auch dazu kommen, dass Grenzverletzungen notwendig werden, um das Kind vor Gefahren zu schützen. Als Beispiel wird ein Kind weggehoben, um es vor einem entgegenkommenden Fahrzeug in Sicherheit zu bringen.
Boll und Remsperger-Kehm (2021) schildern weiter, dass Grenzverletzungen gegen Kinder sich in leiser Form bis hin zu machtvollen oder sich zuspitzenden Verletzungen steigern können wie in einer Spirale. Sie zeigt sich im Ausbleiben von Bedürfnisregulierungen, aber auch dem Verweigern von Trost und ebenso in aktiven verbalen und/oder körperlichen Formen, die mit Macht und Entwürdigung einhergehen.
Grenzverletzendes Verhalten gegen Kinder kommt in der Kita immer wieder vor, Gründe und Akteure sind vielfältig. Die Frage, ab wann grenzverletzendes oder grenzüberschreitendes Verhalten beginnt, wird, häufig ausgehend von eigenen Erziehungserfahrungen, sehr unterschiedlich bewertet. Auch die Einschätzung dazu, wann Verhalten einer Form von Gewalt zuzuordnen ist, kann sehr divers sein. Ein Aspekt können eigene unverarbeitete Erfahrungen, aber auch Ausbildungsdefizite sein. Ein anderer Beweggrund kann in einer negativen Haltung gegenüber (bestimmten) Kindern liegen. Nicht selten sind strukturelle Bedingungen wie Überforderung, ausgelöst durch Personalmangel oder fehlende Unterstützung, ein Grund für grenzüberschreitendes Verhalten (Maywald 2024).
Kommt es zu Gewalt unter Kindern, entsteht bei pädagogischen Fachkräften schnell ein Gefühl des pädagogischen Versagens. Kindergartenkinder befinden sich in einer wichtigen Phase der sozialen Entwicklung, d.h. sie lernen soziale Rollen und Gruppen auszuhandeln, dabei kann es zu Grenzüberschreitungen kommen. Wichtig ist, gemeinsam mit den Kindern zu entwickeln, wie mit Grenzüberschreitungen umgegangen oder diese in demokratischen Aushandlungsprozessen vermieden werden können.
Maywald (2019) unterscheidet vier Formen der Gewalt in pädagogischen Einrichtungen, die in der Beziehung von Erwachsenen zu Kindern entstehen können:
Zu seelischer Gewalt zählen Sätze und Formen wie: »Schade, ich glaube du kannst das einfach nicht!« oder »Wenn du nicht sofort hierherkommst, wirst du nachher nicht mitspielen.«
Gewalt unter Kindern kann sich ebenfalls in unterschiedlichen Ausprägungen zeigen. Emotionale Gewalt ist immer wieder ein Thema, in dem Kinder anderen Kindern drohen, sie ausgrenzen, erpressen oder sich Angst machen.
Körperliche Misshandlung in der Kita kann sich im Zwang zum Essen, aber auch festhalten, ziehen und zerren an Kindern zeigen. Auch Schimpfen, Anschreien oder grob am Arm packen ist übergriffig. Kinder können in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, in dem sie über längere Zeit z.B. sitzen bleiben müssen. Körperliche Gewalt unter Kindern kann z.B. treten, beißen, schubsen und schlagen sein.
Sexuelle Gewalt in der Kita beginnt beim Erzwingen ungewollter Nähe-Situationen, aber auch ungewolltem Küssen. Dazu gehören aber auch sexuelle Handlungen vor und mit dem Kind. Zwischen Kindern kann sie sich in ausufernden und nicht von allen gewollten Doktorspielen zeigen (Klaes 2024).
Um dem Auftrag nach Kinderschutz (UN-KRK) in der Kita nachzukommen, ist es wichtig, dass Kinder diese als sicheren Ort erfahren können. In einem Forschungsprojekt mit einem Kita-Träger wurden Kinder und Fachkräfte dazu befragt, wie sie ihre Kita erleben und aus den Ergebnissen Ableitungen für die Kita-Praxis entwickelt (Sommer-Himmel, Titze & Brandl-Götz 2021).
Die Kita kann dann ein sicherer Ort sein, mit dem die Fachkräfte und Kinder in ihrem Mikrosystem etwas »Positives« verbinden, wenn er mit etwas Ressourcenbehaftetes verknüpft und er gleichzeitig frei von physischen, emotionalen oder sozialen Bedrohungen wahrgenommen wird. Daraus resultiert, dass Kinderschutz für die Kinder sich ausdrückt in Erfahrungen
Für Kinder sind Peers eine wichtige Ressource im Alltag, sie spielen, erproben Dinge zusammen, suchen und meistern Herausforderungen. Auch Streit gehört dazu. Streit geht mit Gefühlen von Angst und Wut einher und kann bei Kindern zu Unsicherheit führen, v.a. wenn das häufig auftritt. Gleichzeitig ist miteinander Streiten können auch eine Lernaufgabe, die die Fähigkeit von Kindern zur aktiven Konfliktlösung steigert. Hier sind die Kinder aufmerksam zu begleiten in ihren Versuchen, selbst Lösungen zu finden. Im Bedarfsfall sind sie zu unterstützen, um Eskalationen zu vermeiden oder wenn sie nicht allein ihren Streit lösen können.
Bei beobachtetem, kritischem eigenen oder Fremdverhalten gegenüber Kindern sollen, können und müssen wir die Kinder schützen. Die Situationen sind so zu moderieren, dass das betroffene Kind und die*der Kolleg*in möglichst wenig verletzt werden und sich danach dennoch wieder weitgehend ohne Vorbehalte begegnen können.
Ausnahme sind körperliche und seelische Übergriffe sowie körperliche Gewalt, die ein Kind berichtet hat. An dieser Stelle muss eine pädagogische Fachkraft die Anwaltschaft für das Kind übernehmen und dem Vorwurf nachgehen; die Schutzkonzepte der Einrichtungen bieten Orientierung.
Gleichzeitig sind jede Fachkraft und jedes Team gefordert, genau hinzusehen und zu überlegen, ob aktuell mehr die Organisation der Gruppe oder responsives Verhalten für Kinder(-gruppen) im Vordergrund stehen sollte.
Den Schutz von Kindern in der Kita in den unterschiedlichen Facetten zu gewährleisten, ist eine Aufgabe, die sich in kleinen und großen Herausforderungen und Bildungsgelegenheiten täglich zeigt. Dörte Weltzien nennt bei der Frühjahrstagung der BAG-BEK (März 2025), den Alltag kindgerecht zu gestalten unter den Prämissen von Kinderschutz und von Einhaltung der Kinderrechte – eine Daueraufgabe von Kita-Teams.
Klaes, S. (2024). Die unsichtbare Grenze. In Praxis Kitaleitung. Kompetenz für Führungskräfte. 4/24, S. 24–27.
Maywald, J. (2019). Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern: Die Kita als sicherer Ort für Kinder. Herder. Freiburg.
Maywald, J. (2024). Sexualpädagogik in der Kita: sexuelle Bildung und Schutz vor sexualisierter Gewalt. Herder. Freiburg.
Reddel, T. (2023). Kinderschutz in der Kita und anderen Einrichtungen: Arten, Konzepte und gesetzliche Grundlagen. Forum Verlag. Merching.
Boll, A. und Remsperger-Kehm, R. (2021). Verletzendes Verhalten in Kitas. Eine Explorationsstudie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen aus der Perspektive von Fachkräften. Barbara Budrich. Opladen.
Sommer-Himmel, R., Titze, K., Brandl-Götz, T. (2021). Die Kita als sicherer Ort. Gegenüberstellung der Fachkräfte- und Kinderbefragung [unveröffentlichter Abschlussbericht]. Nürnberg: Evangelische Hochschule

Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz ist Studiengangsleitung des Studiengangs Pädagogik der Kindheit, Evangelische Hochschule Nürnberg

Prof. Dr. Roswitha Sommer-Himmel ist Studiengangsleitung des Studiengangs Erziehung, Bildung und Gesundheit im Kindesalter, Evangelische Hochschule Nürnberg