Pädagogische Theorien modellieren systematisch die Bedingungen und Ziele für die Gestaltung von Bildungsprozessen durch erzieherisches Handeln. Idealtypisch sollen dabei alle Agenturen und Einflüsse erfasst werden, die Dispositionen des Lernens bestimmen und die Entwicklung eines Menschen zu einer eigenverantwortlichen und zugleich gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit fördern.
Gegenstandsbereich der frühpädagogischen Theorie in diesem Sinne ist die Basis der Sozialisation der Kinder im Alter von der Geburt bis zum Schuleintritt als das Zusammenwirken von Soziabilität und Individuation in formellen und informellen Lern-prozessen, in denen zwischen den Generationen eine historisch jeweils spezifische Kultur des Aufwachsens ausgeprägt wird. Da der Prozess der Sozialisation und Erziehung kleiner bzw. junger Kinder nicht ausschließlich von pädagogischen Aktivitäten gesteuert ist, sondern in umfassende gesellschaftliche Dynamiken und unterschiedliche Organisationen sowie Institutionen eingebunden ist, steht die frühpädagogische Theoriebildung immer vor der Herausforderung einer integrativen Strukturanalyse der Multiperspektivität bzw. -dimensionalität des von ihr zu erfassenden pädagogischen Feldes. Neben der traditionell in der Frühpädagogik dominierenden Theorie und Empirie der Entwicklung und Bildung junger Kinder sowie der frühen Kindheit als Phase im Lebenslauf und als sozialer Status umgreift der Gegenstandsbereich frühpädagogische Theorien dementsprechend – neben ihrem Hauptfeld der Kindergartenpädagogik – alle Formen familialer und nichtfamilialer Erziehung und Betreuung von Kindern dieser Altersgruppe, also neben der Familie das soziale Netzwerk, in das eine Familie eingebettet ist, d.h. den institutionellen bzw. quasi-institutionellen Rahmen (Krippen, Kindertageseinrichtungen, Eltern-Kind-Gruppen), über den Betreuungsmarkt bezahlte Einzelpersonen (Tagesmütter, Kinderfrauen im Haushalt, Babysitter) oder Selbsthilfenetze. Frühpädagogische Theorien im weiteren Sinne beziehen darüber hinaus auch die Bereiche der Familien- und Elternbildung, die die Familie als Adressaten pädagogischer Einwirkung ansprechen, sowie die Forschung zur Professionalität frühpädagogischer Praxis und in diesem Kontext auch pädagogische Beratung, früh-pädagogische Diagnostik und medienpädagogische Aspekte ein.
Aus historischer Sicht ist der mainstream frühpädagogischer Theorien mit Autoren wie Johann Amos Comenius, Jean-Jacques Rousseau, Johann Heinrich Pestalozzi, Maria Montessori, Rudolf Steiner, Sigmund Freud oder Jean Piaget eingebettet in die vielgestaltige Tradition der von Friedrich Fröbel angestrebten Menschenerziehung, also in die zunächst religiös, später säkular orientierten Konzeptionen von Erziehung als Formung des Menschen zum Guten nach unterschiedlichen didaktischen Programmen unter der Leitnorm der Perfektibilität des Menschen als Individuum und Gesellschaftswesen.
Nach den modernen Erziehungstheorien soll der Mensch sich selbst neu finden, wobei Erziehung die Gegenstände und Themen des Lernens, den didaktischen Plan und die optimalen Erfahrungsräume für die verschiedenen Lebensphasen zu definieren und garantieren sucht. Ziel der Erziehungserwartung sind normative Bilder gelingender, guter Kindheit im Sinne der Entwicklung moralisch geprägter individueller Handlungsfähigkeit auf der Basis zu erwerbender Ich-, Sach- und Sozialkompetenz.
Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts war die Frage der Programmatik, also der Diskurs über die beste Konzeption, auch als adäquates bereichsspezifisches Curriculum, die in den frühpädagogischen Theorien dominierende Dimension. Dabei wurde allerdings Kindheit als Entwicklungstatsache (Siegfried Bernfeld) und die normative Funktion von Kindheitskonzepten, auch bei wachsendem Einbezug der internationalen Forschungslage, durch psychologische, psychoanalytische, humanwissenschaftliche, sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Forschung sowie soziologische Surveyuntersuchungen theoretisch und empirisch zunehmend differenziert.
Bezeichnend ist, dass sich in diesem Zeitraum ein eigener disziplinärer Zugriff als Kindheitsforschung etablierte, gleichsam als Konkurrenz und Ergänzung integrativer pädagogisch-anthropologisch ausgerichteter Konzepte innerhalb der frühpädagogischen Theorien. Im Zusammengehen der Tradition der Bildungstheorie der (früh)pädagogischen Klassiker mit Erkenntnissen der neueren Humanwissenschaften, einschließlich der Entwicklungsneurologie und der Hirnforschung, schälte sich dabei das Konzept der Selbstbildung als zentral für die Pädagogik der frühen Kindheit heraus.
Die institutionen- und sozialhistorische frühpädagogische Forschung hat seit den 80er Jahren die Ambivalenzen der Pädagogik der frühen Kindheit im Zusammenspiel der Familie und der öffentlichen Einrichtungen, gleichsam jenseits der ideen-geschichtlich-idealtypischen Programmatiken, in Grundlinien herausarbeiten können, die sich bis in die Gegenwart durchhalten. Die Doppelfunktion frühpädagogischer Institutionen, die aus der gleichzeitigen Ausrichtung am Bildungswesen wie am System der Kinder- und Jugendhilfe erwächst, ist nach wie vor die große Herausforderung für frühpädagogische Theorien geblieben. Der mit erheblicher Ausstrahlungskraft auch für andere Bereiche des Bildungswesens in den 1970er Jahren als offenes Curriculum konzipierte Situationsansatz mit dem Ziel der Qualifikation junger Kinder für zukünftige Lebenssituationen und der Öffnung der Institutionen als Lernorte für Kinder zum Gemeinwesen, durchaus vergleichbar mit den derzeit prominenten Early Excellence Centers in Großbritannien, konnte zwar zahlreiche Desiderate frühpädagogischer Theorien integrieren, sah sich aber zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, den unabdingbaren Auftrag der Bildung der Kinder in der Sockelphase der Ausbildung ihres Lernpotentials, anders als zahlreiche im Ausland entwickelte Programme, etwa das der Reggio-Pädagogik, tendenziell zu vernachlässigen.
Diese Kritik wurde verstärkt durch die sich in den 1990er Jahren etablierende Forschung zur Qualität der Erziehung junger Kinder. Neuere, den internationalen Vergleich ausdrücklich einbeziehende Wir-kungs- und Effektivitätsstudien zur Struktur- und Prozessqualität der Erziehung in Kindertageseinrich-tungen haben darauf verwiesen, dass institutionalisierte Erziehung ohne Einbezug der Familie und der Beachtung der pädagogischen Qualität im Familien-setting nur von begrenztem Wert ist. Damit tragen frühpädagogische Theorien dem Umstand Rechnung, dass die Erwartungen an die Bildungsqualität von Tageseinrichtungen und ihre Voraussetzungen dafür in der familialen Sozialisation höher geworden sind.
Im Gefolge der zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchgeführten internationalen Leistungsvergleiche (z.B. Programme for International Student As-sessment, PISA), bei denen Deutschland nicht gut abgeschnitten hat, wird gegenwärtig durchgängig gefordert, den Kindern in Kindertageseinrichtun-gen, wie in der Mehrzahl der europäischen Länder selbstverständlich, verbindliche Bildungsangebote zu machen. Die Evaluation der inzwischen von der Mehrzahl der Bundesländer vorgelegten (Rahmen-)Bildungspläne wird ein wichtiger Prüfstein für die zukünftige Entwicklung frühpädagogischer Theo-rien sein. Besondere Schwerpunkte frühpädagogischer Theorien werden ferner die Funktionsweise der Praxis unterhalb ihrer pädagogischen Programmatik, die Perspektive der Kinder als Akteure ihrer Bildungsprozesse sowie die Kinderbetreuungspolitiken im Kontext des sich wandelnden Sozialstaats mit zunehmender Marktorientierung auch bei frühpädagogischen Bildungsangeboten sein. Die Vorzeichen für einen raschen Forschungsfortschritt stehen angesichts des hohen Fragmentierungsgrades früh-pädagogischer Theorien und der im internationalen Vergleich in Deutschland nur schwach ausgebauten Forschungsinfrastruktur wenig günstig.
Literatur
Copyright-Hinweis:
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © 2011 Verlag Julius Klinkhardt. Quelle: Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), hg. v. Klaus-Peter Horn, Heidemarie Kemnitz, Winfried Marotzki und Uwe Sandfuchs. Stuttgart, Klinkhardt/UTB 2011, ISBN 978-3-8252-8468-8. Nutzung mit freundlicher Genehmigung des Verlags. Das komplette Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft erhalten Sie im UTB-Online-Shop (Link s.u.)
Beruflicher Werdegang 1959 - 1965 Studium der Fächer Philosophie, Germanistik, Geschichte und Pädagogik an den Universitäten Göttingen, FU Berlin und Wien 1965 - 1980 Wissenschaftlicher Assistent, Akademischer Rat und Hochschuldozent an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen 1980 - 1995 Professor für Allgemeine Pädagogik am Fachbereich Erziehungs- wissenschaften der Georg-August-Universität Göttingen 1983 - 1986, 1992 - 1994 Dekan des Fachbereichs Erziehungswissenschaften an der Georg- August-Universität 1995 - 2005 Universitätsprofessor für Schulpädagogik an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig (Pensionierung) 1997 - 2003 Geschäftsführender Leiter des Instituts für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik 1999 - 2001 Vizepräsident für die Ressorts „Lehre, Studium und Weiterbildung“ und „Internationale Beziehungen“ 1995 - 2009 Wissenschaftlicher Leiter der „Arbeitsstelle für Hochschuldidaktik“, seit 2000 „Kompetenzzentrum Hochschuldidaktik für Niedersachen“
2005 – 2009 kommissarisch 1977 - 1979, Lehrauftrag für Philosophie und Pädagogik an der TU Clausthal 1989 - heute Rahmen des Studium Generale
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