Die Corona-Pandemie hat mit ihren unterschiedlichen Regelungen und Einschränkungen für das öffentliche Leben nicht nur Auswirkungen auf die breite Bevölkerung sondern auch auf die Gestaltung der Alltagspraxis in Kindertageseinrichtungen. Ohne die Bedeutsamkeit einiger dieser Maßnahmen in Abrede zu stellen, besitzt die Fülle dieser Maßnahmen allerdings einen zunehmenden entwicklungseinschränkenden Bedeutungswert für (selbst)bildungsrelevante Entwicklungsprozesse bei Kindern. Zusätzlich deswegen, weil schon die immer stärker ausgeprägte durchgetaktete Didaktisierung und alltagsferne Funktionalisierung der Elementarpädagogik damit vorangetrieben wird. Kindern wird ihre Kindheit im Hinblick auf deren Entwicklungschancen immer stärker geraubt.
Alltagsbeispiele, die nachdenklich machen müssen und Konsequenzen erforderlich machen: Durch die Corona-Pandemie und die damit vorgegebenen Umgangsbeschränkungen konnten bzw. können keine Lichterfeste, keine Weihnachtsfeiern, kein Laternen-/ Martinsumzug und auch keine Sommer- und Herbstfeste stattfinden. Zusätzlich findet in der Regel kein gemeinsames Frühstücksbuffet statt und Kindern werden die Speisen/Getränke serviert; Kinder dürfen auch keine Einladungen zum Geburtstagsfest aussprechen bzw. selber wahrnehmen. Darüber hinaus ist es in vielen Kindertageseinrichtungen nur möglich, in Absprache mit den anderen Kita-Gruppen eine vorher festgelegte, mit einem Absperrband gekennzeichnete Außenfläche innerhalb eines bestimmten Zeitfensters zu nutzen und gegenseitige Besuche in andere Kita-Gruppen sind untersagt, womit feste Freundschaften gruppenübergreifend nicht gepflegt werden können. Besucherlisten müssen mit genauen Person-/Anschriftangaben und einer Begründung für den Besuch ausgefüllt, Kinder müssen bei Ankunft von ihren Eltern vor dem Kindergarten einer Fachkraft übergeben, Spielsachen dürfen von Zuhause nicht mehr mitgebracht werden und das gemeinsame Singen ist – wenn überhaupt – nur noch im Gruppenverbund erlaubt. Darüber hinaus gab bzw. gibt es weitere und immer wieder neue Vorgaben, so, als seien Kinder eine vom Aussterben bedrohte Spezies.
Durch diese Maßnahmen wachsen Kinder mit zunehmender Zeit in einem Umfeld auf, in dem es ihnen durch eingeschränkte Lebenswelten, zerrissene Zeiten und eingegrenzte Lebensräume immer schwerer gemacht wird, sich selbst nach eigenen, psycho-sozialen Grundbedürfnissen und genetisch in Gang gesetzte Aktionsimpulsen zu entwickeln, sich selbst dabei mit Ruhe, ohne Unterbrechungen, wahrzunehmen, um sich dabei als unverwechselbare Persönlichkeit zu stabilisieren. Insofern ergeben sich sowohl für die Aufgaben einer kindorientierten Alltags-Kita-Praxis als auch für die Schwerpunktsetzung unverzichtbare Eckwerte, die es genauer zu erfassen gilt. Und genau hier kommen diese Merkmale in vielen elementarpädagogischen Einrichtungen häufig zu kurz, weil durch manche politisch gesetzte Schwerpunkte (z. B. durch die vielerorts übermächtig eingesetzte Digitalisierung und eine gegenwartsferne, funktional gestaltete naturwissenschaftliche Bildung), wirtschaftlich initiierte, durch manche Stiftungen und Wirtschaftsverbände ins Leben gerufene, teilleistungskonzipierte Förderprogramme der unterschiedlichsten Art sowie Listenführungen ohne Ende, elementare Kinder- und Kindheitsbedürfnisse beiseite geschoben werden, für längere Zeit im Abseits liegen bleiben und immer wieder Träger-, Eltern- und Erzieher*innenbedürfnisse sowie deren Wünsche die Richtung sowie die Ausgestaltung der Pädagogik vorgeben.
Dieser sich nach vorne bewegender Rückwärtsgang der Pädagogik ist unter dem Gesichtspunkt einer entwicklungsförderlichen Pädagogik weder fachlich zu verstehen noch gut zu heißen und bedarf daher einer Kehrtwendung hin zum Kind.
Negative Alltagserfahrungen und entwicklungshinderliche Geschehnisse offenbaren sich in der Regel in Entwicklungsverzögerungen, Entwicklungsrückschritten oder in den kindlichen Irritationen (= Verhaltensauffälligkeiten, wie z. B. Angstempfindungen, Zurückhaltung, gesteigerter Aggressivität/Gewalt, zwanghafte Verhaltensweisen, psychosomatische Ausdrucksformen, Leistungsverweigerung …).
Eingeschränkte Lebenswelten, eingegrenzte Lebensräume und zerteilte Kinderzeiten sorgen für nachhaltige Entwicklungshindernisse und werden von Kindern insbesondere durch so genannte Trennungserlebnisse (z. B. wenn seelische Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, Kinder zu früh „vernünfteln“ müssen oder durch Einengungen in ihrem Erfahrungs-, Spiel- und Bewegungsbedürfnis eingeengt werden), Beziehungsnöte (z. B. wenn sich Kinder allein gelassen fühlen, Erwachsene Kinder mit einer belastenden Schuld belegen oder Kinder nur dann Liebe finden wenn sie möglichst früh „perfekt“ sind), Bedrohungsängste (z. B. wenn Kinder sich in problematisch erlebten Situationen alleine gelassen oder ausgegrenzt fühlen bzw. Gewalt in ihren unterschiedlichsten Formen erfahren müssen), Auslieferungserlebnisse (z. B. wenn Kinder sich in bestimmten Situationen völlig wehrlos erleben, unter einer fehlenden Solidarität und mit einer fehlenden Wertschätzung aufwachsen/ leiden müssen) oder Ohnmachtserlebnisse (z. B. in denen Kinder beherrscht, gegängelt werden oder durch eine Machtausnutzung eines Erwachsenen schutzlos ausgesetzt sind) wahrgenommen.
Psycho-soziale Grausamkeiten – in kleinen und großen Ausprägungen – gegenüber Kindern gibt es auch in Kindertageseinrichtungen: auch heute noch. Dazu folgende, ganz aktuelle Beispiele:
Ungezählte, weitere Beispiele könnten an dieser Stelle folgen. Solche und ähnliche Vorkommnisse widersprechen nicht nur in eklatanter Weise den Grundprinzipien einer humanistisch orientierten Pädagogik und spezifischen QM-Items sondern auch verbrieften Kinderrechten. Insofern bedarf es einer ungeteilten Aufmerksamkeit, entwicklungshinderliche Fakten/ Ereignisse stets bewusst wahrzunehmen, im Kollegium öffentlich zu thematisieren und für eine Veränderung zu sorgen.
Auch schon vor der der Corona-Zeitrechnung kamen (und kommen weiterhin) neue Aufgaben bzw. einzuhaltende Einschränkungen auf die elementarpädagogischen Fachkräfte zu – zusätzlich zu den nicht zu akzeptierenden Gruppengrößen und dem eklatanten Mangel an Fachkräften: Beim Füttern kleiner Kinder müssen Erzieher*innen in manchen Einrichtungen eine ganzkörperbedeckende „Schutzkleidung“ tragen; Toilettenpapierrollen zum Basteln dürfen wegen möglicher Fäkalienspuren nicht mehr zum Werken benutzt werden; Topfblumen sollen wegen möglicher Sporen in der Blumenerde aus den Gruppenräumen verbannt werden; eine Dokumentation bei einer Medikamentenverabreichung an erkrankte Kinder: sicherlich notwendig und dennoch zeitraubend; das Backen darf nur nach genehmigten Rezepten erfolgen und bei den Rezepten müssen die Allergene gekennzeichnet sein; bis auf die Küchenhilfen darf niemand die Küche betreten; Eltern- und Kinderinterviews sowie Elterngespräche sind zu dokumentieren und auszuwerten; anonymisierte Zufriedenheitsabfragen müssen in regelmäßigen Abständen durchgeführt, ausgewertet und öffentlich ausgehängt werden; tägliche Spielplatzkontrollen sind an der Tagesordnung; statt echten Kerzen dürfen nur noch LED-Leuchten genutzt werden; schwer einsehbare Außenfläche müssen „bereinigt“ werden; Entwicklungsberichte sind zu jedem Kind in regelmäßigen Abständen anzufertigen …
Darüber hinaus umfassen die meisten QM-Verfahren über 400 Seiten mit Anforderungsitems, die erfüllt und protokolliert werden müssen. (Anmerkung: So berechtigt die Anfänge eines Qualitätsmanagements waren, so unglaublich stark haben sich viele QM-Verfahren mit einer Eigendynamik erweitert als gäbe es in der Pädagogik nichts Wesentlicheres als eine permanente Listenführung und eine ständige Dokumentation – und das auf Kosten der Zeit, die vielmehr den Kindern zusteht!) Unter all’ diesen Einschränkungen und Vorgaben leidet die Qualität von Kindheit, weil Kindern damit auch die Unternehmenslust, die Initiative, Unbekanntes zu entdecken und zu erforschen, die Risikofreude sowie das sich Einlassen auf Wagnisse immer stärker abhanden kommt (und sich im Jugendalter durch Initiativlosigkeit/Lethargie oder durch Erlebniswünsche ausdrücken, die sich wiederum durch ein besonders ausgeprägtes Wagnisverhalten auszeichnen.)
Solange Konzeptionen Aussagen enthalten, die „kindorientierte“ Entwicklungsbedürfnisse als Ausgangspunkt der pädagogischen Alltagsgestaltung beschreiben und diese in der Praxis nur bruchstückhaft zu entdecken oder gar nicht wiederzufinden sind, werden diese zu unverbindlichen Konzepten degradiert und besitzen infolge dessen keine Aussagekraft.
Mögen diese Ausführungen dazu beitragen, dass die Kindheitspädagog*innen endlich der „gestohlenen Kindheit“ aktiv und zugleich fachkompetent entgegentreten.
Alle bedeutsamen Schwerpunkte der Elementarpädagogik müssen vom Kind ausgehen: von ihren Bedürfnissen (nicht von ihren Wünschen!), ihren Interessen, ihrem Können und ihrer motivationalen Ausgangslage.
Das geht nur, wenn elementarpädagogische Fachkräfte:
Daher liegt der Lösungsbeginn bei allen vorgegebenen und vorhandenen Einschränkungen darin, mit Kräften, ausgehend durch eine Selbstmotivation, diese eben beschriebene Orientierung anzunehmen, um auch in einer zunehmend schwierigen Zeit den Einschränkungen, Einengungen und einer Zeitzerrissenheit Paroli zu bieten.
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Anmerkung: Ich danke der Kindheitspädagogin Doris Krümberg (Niedersachsen) und dem Kindheitspädagogen Michael Modrow (Schleswig-Holstein) für deren Unterstützung bei den Recherchen zur Faktensammlung im Hinblick auf eine sich zunehmend formalistisch entwickelnde Elementarpädagogik.
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Armin Krenz, Prof. h.c. Dr. h.c., Wissenschaftsdozent (mit Zulassung zur heilkundlich, psychologisch-therapeutischer Tätigkeit) war zuletzt als Honorarprofessor an staatl. Universitäten in Bukarest & Moskau sowie als Wissenschaftsberater in Chongqing (China) tätig. Kontakt: armin.krenz@web.de