„‚Unsere Kinder nehmen wieder alle nach Haus,
diese braunen Tanten müssen zur Schule hinaus!‘“
Die Nazis begannen nach der Machtübernahme sogleich mit der Gleichschaltung des Bildungs- und Erziehungswesens. Dabei konnte sich die Institution Kindergarten einer schnellen und vollständigen Gleichschaltung – sowohl in pädagogischer wie auch in organisatorischer Hinsicht – entziehen. Neben den anfänglichem Desinteresse am Kindergarten erwies sich als weiterer Vorteil, dass nicht der NS-Staat, „sondern vielmehr die unterschiedlichsten privaten Träger auf dem Felde der Vorschulerziehung agierten, darunter an erster Stelle die in den konfessionellen Spitzenverbänden zusammengeschlossenen Vereine, die – wenigstens anfangs – auch von den nationalsozialistischen Machthabern nicht so leicht anzugreifen waren“ (Konrad 2004, S. 159). Jedoch verlangte der sich mit den Jahren immer deutlicher manifestierende Totalitätsanspruch der Nazi-Administrationen, allen voran die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV), dass die öffentliche Kleinkindererziehung ausschließlich nach ihren Richtlinien zu geschehen habe, was seit Mitte der 1930er-Jahre zu punktuellen und Ende der 1930er-Jahre zu massiven Beeinträchtigungen der Kindergartenarbeit in freier Trägerschaft führte (vgl. Berger 2019, S. 24 ff.). Das Staatsziel lautete unmissverständlich:
„Die Betreuung der Kinder soll und muß in Zukunft einzig und allein Sache der NSV sein“ (Smieszchala 2005, S. 267).
Den Einrichtungen, die von der NSV, einer Teilorganisation der NSDAP, übernommen werden sollten, teilte man lapidar mit:
„Der in Ihrer Gemeinde befindliche Kindergarten ist bis zum nächstmöglichen Termin in die Verwaltung der NSV zu überführen. Den dort befindlichen konfessionellen Kräften ist sofort zu kündigen. Vollzugsmeldung ist vorzulegen. Der Kreisleiter“ (zit. n. Kindergarten Gerolzhofen 1980, S. 20).
Ab den 1. April 1941 durften NSV-Kindergärten nur noch Kinder aufnehmen, deren Eltern (zumindest ein Teil) Mitglied der NSV war, wie aus einem Schreiben der NSDAP-Kreisleitung Neuburg/Donau an den Magistrat der Stadt Rain hervorgeht. Dort ist nachzulesen, dass
„alle Kinder aus Familien, deren Oberhaupt (oder die Ehefrau) nicht Mitglied der NSV ist, obwohl es nach Meinung des Ortsgr. Amtsleiters finanziell dazu in der Lage wäre, in unseren NSV-Kindergärten nicht mehr aufgenommen werden. Nichtmitglieder, deren Kinder bereits in Kindertagesstätten eingeschrieben sind, sind durch die Kindergärtnerin zum Beitritt aufzufordern, andernfalls die Kinder nicht mehr die Tagesstätte besuchen dürfen“ (zit. n. Berger 2019, S. 35).
Mit allen Mitteln versuchte die NSV den kirchlichen Einfluss auf das Kindergartenwesen zurückzudrängen. Diesbezüglich war man bei den Methoden nicht sehr wählerisch, wie nachstehende „Aufgaben der NSV-Kindergärtnerinnen“ für deren Umgang mit den ihnen anvertrauten Kindern, Eltern und geistlichem Personal belegen (vgl. Burger 1998, S. 261):
Dass die vollständige Gleichschaltung insbesondere der konfessionell gebundenen vorschulischen Einrichtungen (d. h. katholischen und evangelischen) nicht gelang, ist im Wesentlichen ein Verdienst der engagierten Elternschaft. Diese wehrte sich vehement gegen die diktatorisch angeordnete Übernahme der seit Jahren und Jahrzehnten bestehenden christlichen Kindergärten durch die NSV. In manchen Fällen konnte eine Rückgabe an die konfessionelle Trägerschaft (vgl. Berger 1986, S. 159 ff u. 211 ff.) erkämpft werden. Insbesondere wenn Ordensschwestern oder Diakonissinnen gekündigt und durch NSV-Schwestern, genannt „braune Schwestern“ (die Bezeichnung leitete sich von der Farbe ihrer meist braunen Tracht ab, die vom Schnitt her an die von Ordensfrauen erinnerte), ausgetauscht wurden, entlud sich der elterliche Zorn – so wie beispielsweise in der seit langem katholisch bestimmten württembergischen Gemeinde Geislingen, Kreis Balingen. Zirka 150 bis 200 Frauen protestierten Anfang Dezember 1941 gegen die von der NS-Administration verordnete Schließung der von den „Barmherzigen Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul in Untermachtal“ geleiteten Kinderschule, an dessen Stelle ein NSV-Kindergarten errichtet werden sollte. Damit verbunden war die Vertreibung der Klosterfrauen, obwohl von ihnen, wie beigefügtes Foto belegt, die Hakenkreuz-Fahne (siehe Pfeil) durchaus zu bestimmten Anlässen „gehisst“ wurde.
Zeitzeugen berichteten, dass beim Marsch auf das Geislinger Rathaus, an dem auch zahlreiche Frauen beteiligt waren, die keine Kinder in dem Kindergarten hatten, Führerbilder an der Wand umgedreht wurden und die Protestierenden die Amtsmänner verächtlich als „Drückeberger“ bezeichneten, weil sie nicht an der Front waren. Die Aktion, welche als „Weiberschlacht“ in die Lokalgeschichte einging, wurde von einer älteren Bewohnerin von Geislingen in Form eines episch-dramatischen Gedichts festgehalten, das wegen seiner inhaltlichen Aussagekraft, Einzigartigkeit und somit historischen Bedeutsamkeit an dieser Stelle in voller Länge wiedergeben wird:
„Die Weiberschlacht von Geislingen
I. Teil
Am 1. und 2. im Monat Dezember
1941 schrieb unser Kalender,
da war in Geislingen ein Kampf entbrannt;
‚Die Weiberschlacht‘ wird er genannt.
Zwei Tage zuvor zum Friedhof hin
geleitet ward Schwester Oberin.
Bei allen Bewohnern war groß der Schmerz,
am größten doch im Kinderherz.
Die Begräbnisfeier war einmalig und schlicht;
hell brannte der Schwestern ihr Kerzenlicht.
Gar viele der weißen Mädchen, der kleinen,
das Kränzlein tragend, mußten weinen.
Auch der Frauen saß alles tief im Gemüt,
wie hatte die Schwester doch ihre Kinder geliebt!
Wie machte sie ihnen so viele Freud‘,
wie stillte sie stets deren kleines Leid!
In aller Frühe am Montagmorgen
Zur Kirche gingen die Schwestern voll Sorgen.
Recht groß waren in ihren zarten Herzen
Der toten Schwester Abschiedsschmerzen.
Doch als nach der Kirche sie wollten ins Heim,
der braune Geist war dort schon daheim. –
‚Bis heut‘ Abend um sechs Uhr geben wir Zeit,
d‘rum macht zum Abschied euch gleich bereit!‘
Es kamen die Mütter, die Kinder am Arm,
sie zu bringen ins Stübchen warm. –
‚So haben wir sie für ein paar Stündlein los,
geborgen recht gut auf der Schwestern Schoß‘.
Als sich dann zeigten zwei braune Gestalten,
die als ‚Tanten‘ hier sollten schalten und walten.
Da erfaßte die Mütter ein gar bitterer Schmerz,
und ein Heldenmut zog ein in ihr Mutterherz.
‚Unsere Kinder nehmen wieder alle nach Haus,
diese braunen Tanten müssen zur Schule hinaus!‘
Kommt, laßt uns dann aufs Rathaus gehen;
wir müssen feste zusammenstehen!
Der Marsch zum Rathaus brachte leider nichts ein,
denn keiner wollte der Schuldige sein.
Zur Schule gings, um Rat zu holen,
im Eiltempo auf Schusters Sohlen. –
Hier fand man saure, bittere Mienen,
es sei zu schwer, uns jetzt zu bedienen. –
Die Kreisleitung verspricht auf mittag um zwei,
daß sie dann in der Kinderschule zu Geislingen sei.
So ist ein Hoffnungsstrahl für die Mütter geblieben,
denn sie wollen behalten ihre Schwestern, die lieben.
‚Dem Kreisleiter werden wir schon das Nötige sagen,
was unsere Herzen beschwert und bedrückt unseren Magen!‘
Pünktlich um zwei ist der Saal dick voll. –
‚Ja‘, meinen die Frauen, ‚die Sache wird toll!‘
– Doch der Herr des Kreises kam leider nicht,
und da sonst gar niemand zu ihnen spricht,
eilt man zu Metzger Siebe ans Telefon;
und vom Murrhaus kam dann mit scharfen Ton:
man hätt‘ für solche Dinge jetzt keine Zeit;
im Dritten Reich gäb’s wichtig’re Arbeit.
Auf dem Rathaus sollte man schlichten den Streit. –
Hierzu sind die Frauen sofort bereit.
Sie donnern dort los, daß es blitzt und kracht,
doch gab’s keinen Sieg bei der Redeschlacht.
Als schon herbeieilt die Abendstund‘
Da ertönt es laut wie aus dem Mund:
‚Auf, auf! Mit dem Auto ins Murrhaus hinein,
dort werden wir uns’res Sieges schon sicher sein!‘
Die Frauen voller Anmut und Würde,
ihrem Hause, auch der Gemeinde zur Zierde,
bringen ihr Anliegen im Murrhaus vor,
finden dort aber kein offenes Ohr.
Sie ziehen nun wieder zum Heimatort
und schmieden dann weitere Pläne dort.
– ‚Um acht Uhr, pünktlich, da sammeln wir uns wieder,
verstärkt durch all uns’re Familienmitglieder!‘
Von der Schule ging’s zur ‚Schloß-Wirtschaft‘,
– die Gemeinderäte holten sich dort Mut und Kraft,
um nach des Tages schweren Sorgen,
zu stärken sich für den kommenden Morgen. –
‚Wenn ihr jetzt so noch weiter tobt,
wird mit Maschinengewehr euch gedroht!‘
Ihr könnt uns erschießen, das ist uns gleich,
dann kommen wir alle ins Himmelreich.
Nehmt sogleich zur Hand euer Gewehr!
Ja. Wir setzen und gar nicht zur Wehr.
Bis jetzt ist gefallen noch gar kein Schuß,
wir, wir kämpfen weiter, das ist der Beschluß!‘
Die Frauen legten zum Schlaf sich nun nieder,
um etwas zu stärken die ermüdeten Glieder.
Sie schütteten aus aus vollem Herzen
Dem Vater im Himmel die Seelenschmerzen.
‚Allmächt‘ger Gott, wir bitten Dich,
laß doch uns Frauen nicht im Stich,
denn morgen geht das Kämpfen weiter.
Sei Du uns Helfer und auch Streiter!‘
II. Teil
Still in den Fabriken die Räder stehn;
all die Frauen zum Kampf jetzt gehen. –
Beim Rathaus viel Frauen und Mägdelein,
finden mutig zur Offensive sich ein.
Da plötzlich – der Feind von Ost und West
mit Auto, Motorrad und Fäusten fest. –
Sie schlugen kreuz und quer in die Masse ein,
‚Ihr Weibervolk, euch jagen wir alle heim!‘
Die holden Mädchen sehen mit Grauen
wie man umgeht mit wehrlosen Frauen.
Weinend und heulend zieh’n sie nach Haus;
für sie ist der Kampf jetzt endgültig aus.
‚Ihr Männer, Väter und Brüder da draußen,
wenn ihr wüßtet wie diese Horden hier hausen!
Fürs Vaterland kämpft und blutet ihr,
und wir Frauen bekommen Prügel dafür!
III. Teil
Nach dem Essen fing an dann ein Verhör.
Man holte die Frauen jetzt einzeln her.
‚Unterschreiben müßt ihr, ihr Weibervolk,
daß ihr an Demonstrationen nicht mehr teilnehmen wollt!‘
‚Was fällt euch da ein, das tun wir nicht,
denn wir erfüllten ja nur unsere Pflicht.
Durch Drohung werdet ihr gar nichts erreichen.
Erschießt uns doch und geht über Leichen!‘
Dieser Mut hat selbst die Braunen in Staunen versetzt.
Sie sparten die Schläge, wurden ruhiger jetzt.
‚In die Kinderschule schickt eure Kinder hinein,
dann wird im Ort gleich Friede sein!‘
‚Was wir geboren, erzieh’n wir daheim,
was die Männer gebären, kann ja ins Heim,
Unterschrieben wird nichts, zieht endlich mal ab,
sonst setzen wir euch doch noch in Trab!‘
‚Das ist zuviel, das sollt ihr nun büßen!‘
Drei Frauen mit nach Oberndorf müssen.
In ein Auto werden sie reingesperrt
Und später erbarmungslos eingesperrt.
Sie wurden hinter Schloß und Riegel gesetzt.
‚So, bereut eure Sünden jetzt!‘ –
Erst am achten Tage durften sie heim,
vergessen aber nie die erlittene Pein.
Weil sie gar so viel Krach hat gemacht,
wird eine Frau mit einer Buße bedacht.
‚Die zehn Märkle, die bezahl ich gern‘,
doch bereue ich nichts, das liegt mir ganz fern!‘
Geislingens Frauen haben doch gesiegt,
wenn es auch kein Denkmal gibt.
Sie brachten die Kinder nicht mehr ins Heim
Und ließen die ‚braunen Tanten‘ allein“ (zit. n. Berger 1986, S. 171 ff. u. Hägele 2011, S. 34 ff. ).
Die einwöchige Demonstration äußerte sich nicht nur in den unmittelbaren Protesten, die Geislinger Mütter boykottierten fortan den NSV-Kindergarten, indem sie ihre Kinder zuhause behielten. Dem nicht genug: Die alleinerziehende Mutter Frida Straub (1914-1986), deren Mann September 1941 an der Ostfront sein Leben lassen musste, schrieb am 6. Januar 1942 an höchste politische Stelle folgende äußerst mutige und risikobehaftete Zeilen: „An den Württbg. Innenminister Herrn Prf. Mergenthaler! Am 1. Dez. 1941 wurde unser kath. Kindergarten in Geislingen aufgehoben, ohne unsere Schwestern oder uns Frauen, deren Kinder seither im Kindergarten waren, vorher zu verständigen. Geislingen ist eine rein kath. Gemeinde u. der Kindergarten besteht seit rund 40 Jahren. Wir Geislinger Frauen hängen an unseren Schwestern, wir wollen sie behalten und auch in der Zukunft unsere Kinder zu ihnen in den Kindergarten schicken. […] Herr Innenminister, bitte sorgen sie dafür, dass die Geislinger wieder ihren Kindergarten und ihre Kinderschwestern bekommen. Darum bitte ich Sie und mit mir alle Frauen in Geislingen, deren Männer im Felde stehen und zum Teil schon ihr Leben und oder ihre Gesundheit geopfert haben“ (zit. n. Grupp/Mayer 2019, S. 31; vgl. Hägele 2011, S. 32 f).
Eine Rückantwort des NS-Politikers, als auch etwaige Strafmaßnahmen gegen die Briefschreiberin, sind (bisher) nicht bekannt.
Letztendlich waren die streitbaren und mutigen Frauen erfolgreich. Durch die Selbstversorgung ihrer Kinder ging die Zahl der zu betreuenden Knaben und Mädchen im NSV-Kindergarten von 140 auf acht bis zehn zurück. Daraufhin sind zwei NS-Schwestern abgezogen worden. Schließlich wurde Ende 1944 die NSV-Einrichtung geschlossen (vgl. Berger 1986, 77 ff.; vgl. Berkholz 1984, S. 83 f; vgl. Hägele 2011, S. 23 ff.).
Manfred Berger, unterrichtete über 35 Jahre (u. a. Rhythmik, Kinder- und Jugendliteratur, Vorschulpädagogik, Geschichte der Sozialarbeit/-pädagogik und des Kindergartens) an verschiedenen Fachhochschulen für Sozialpädagogik sowie Fachschulen/-akademien für Sozialpädagogik. Seit seinem Ruhestand widmet er sich verstärkt dem von ihm mitbegründeten und geleiteten „Ida-Seele-Archiv“ zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens und der Sozialarbeit/-pädagogik und ihrer Bezugswissenschaften.
manfr.berger@t-online.de